Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
nur vor, wie wir gemeinsam die Welt verändern könnten. Zwei gesteigerte Intelligenzen – was für eine Verschwendung von Möglichkeiten.>
Es stimmt – würden wir gemeinsam handeln, könnten uns Dinge gelingen, die alles weit überträfen, wozu jeder von uns für sich allein in der Lage ist. Jeglicher Austausch wäre ungeheuer fruchtbar: Wie befriedigend wäre es allein schon, einfach nur mit jemandem zu sprechen, der mit mir Schritt halten kann, dessen Gedanken mir neu sind, der dieselben Melodien hört wie ich. Auch er sehnt sich danach. Uns beide schmerzt die Vorstellung, dass einer von uns diesen Raum nicht lebend verlassen wird.
Ein Vorschlag.
Er kennt meine Antwort bereits.
Da die Sprache des Körpers über kein technisches Vokabular verfügt, benutzen wir nun unsere Stimmen. Schnell und leise sagt Reynolds fünf Wörter. Sie sind bedeutungsschwerer als alle Poesie: Jedes Wort enthält einen logischen Ansatzpunkt, wo ich einhaken kann, nachdem ich die implizit enthaltene Bedeutung der vorangegangenen Wörter extrahiert habe. Zusammen enthalten sie eine revolutionäre Einsicht der Soziologie. Mittels Körpersprache gibt er zu erkennen, dass sie zu seinen ersten Errungenschaften gehört hat. Ich bin zu der gleichen Erkenntnis gekommen, habe sie jedoch anders formuliert. Sofort kontere ich mit sieben Wörtern, von denen vier den Unterschied zwischen meiner und seiner Erkenntnis zusammenfassen und drei ein nicht offensichtliches Ergebnis dieser Unterschiede umreißen. Er antwortet mir wieder.
Wir fahren fort. Wie zwei Barden sind wir, die jeder dem anderen das Stichwort für eine weitere Strophe hinwerfen und gemeinsam ein episches Gedicht des Wissens komponieren. Nach kurzer Zeit werden wir schneller und fallen einander ins Wort, hören jedoch jede Nuance, bis wir schließlich erfassen, schlussfolgern, erwidern: fortwährend, gleichzeitig und einander beflügelnd.
Etliche Minuten vergehen. Ich lerne viel von ihm und er von mir. Die Flut der Ideen, für die ich Tage bräuchte, um sie vollständig zu durchdenken, ist berauschend. Doch es geht auch um strategische Informationen: Ich lote das von ihm nicht ausgesprochene Wissen aus, vergleiche es mit meinem und schätze ab, was er entsprechend bei mir herausfindet. Denn uns ist bewusst, dass es nicht so weitergehen kann: Während wir uns austauschen, treten unsere ideologischen Differenzen glasklar zutage.
Reynolds hat die Schönheit, deren Zeuge ich geworden bin, nicht kennengelernt – er stand vor wunderbaren Einsichten, ohne sie auch nur wahrzunehmen. Die eine Gestalt , die ihn inspiriert, habe ich nicht weiter beachtet: die Gestalt der planetaren Gesellschaft, der Biosphäre. Ich liebe die Schönheit, er die Menschheit. Jeder von uns ist der Meinung, dass der andere großartige Möglichkeiten außer Acht gelassen hat.
Sein bislang unerwähntes Vorhaben besteht darin, ein globales Netzwerk der Einflussnahme aufzubauen, das zu weltweitem Wohlstand führen soll. Dafür wird er eine Reihe von Leuten einstellen, von denen er einen Teil nur mit erweiterter Intelligenz, andere dagegen mit Meta-Ichbewusstheit ausstatten will; einige davon werden für ihn eine Bedrohung darstellen.
Ich kann präzise ermessen, wie weit wir in unseren jeweiligen moralischen Standpunkten voneinander entfernt, wie unvereinbar die Linien sind, die von ihnen ausgehen. Nicht bloßes Mitgefühl oder Altruismus treiben Reynolds an, sondern etwas, das beides einschließt. Mir dagegen geht es nur darum, das Erhabene zu verstehen.
Er betrachtet Intelligenz als Mittel, während ich darin einen Zweck an sich sehe. Eine weitere Steigerung wäre für ihn weitgehend nutzlos. In seinem gegenwärtigen Zustand kann er für jedes Problem, das im Bereich menschlicher Erfahrung liegt, die bestmögliche Lösung finden – und für etliche, die
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