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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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darüber hinausgehen. Er bräuchte nur genug Zeit, um die Lösung umzusetzen.
    Jede weitere Diskussion ist zwecklos. In gegenseitigem Einvernehmen fangen wir an.
    Ein Überraschungsmoment gibt es bei unseren Angriffen nicht: Auch eine Vorwarnung könnte unsere Wahrnehmung nicht noch weiter schärfen. Unser Zweikampf bedarf keiner einleitenden Höflichkeit, er beginnt einfach als Manifestation des Unvermeidlichen.
    In den Modellen, die wir mittels unserer Schlussfolgerungen voneinander konstruiert haben, gibt es Lücken, Defizite – und zwar die psychologische Entwicklung und die Entdeckungen, die jeder für sich gemacht hat. Von diesen Zwischenräumen ist nichts nach außen gedrungen, keine Verbindungen führen von ihnen zum Weltengeflecht – bis jetzt.
    Ich fange an.
    Ich konzentriere mich darauf, zwei sich selbst verstärkende Reaktionsschleifen in ihm in Gang zu setzen. Die eine ist sehr simpel: Sie lässt den Blutdruck rasch und stark ansteigen. Bliebe sie länger als eine Sekunde lang unbemerkt, würde sie ihn bis zum Schlaganfall hochpushen, auf vierhundert zu dreihundert vielleicht; die kleinen Blutgefäße in seinem Hirn würden platzen.
    Reynolds merkt es sofort. Obwohl aus unserer Unterhaltung klar hervorgegangen ist, dass er niemals die Erzeugung von Biofeedback-Kreisläufen bei anderen Menschen erforscht hat, erkennt er, was passiert. Augenblicklich drosselt er seinen Herzschlag und erweitert in seinem gesamten Körper die Blutgefäße.
    Doch mein eigentlicher Angriff besteht ohnehin aus einer weiteren, subtileren Rückkopplungsschleife. An dieser Waffe arbeite ich schon, seit ich nach Reynolds suche. Seine Neuronen produzieren dadurch ein Übermaß an Neurotransmitter-Antagonisten, was die Reizleitung an den Synapsen und damit die Aktivität in seinem Hirn unterbricht. Diese Reaktionsschleife habe ich viel stärker angeregt als die andere.
    Während Reynolds den Scheinangriff abwehrt, lässt seine Konzentration geringfügig nach, was durch die Folgen des erhöhten Blutdrucks kaschiert wird. Eine Sekunde später beginnt sein Körper, die Wirkung selbsttätig zu verstärken. Erschrocken bemerkt Reynolds, wie seine Gedanken verschwimmen. Er fahndet nach dem Mechanismus, der dafür verantwortlich ist; bald wird er ihn finden, aber er wird nicht lange fähig sein, ihn zu untersuchen.
    Sobald seine Hirntätigkeit erst einmal auf das Niveau eines normalen Menschen abgesunken ist, müsste es mir ein Leichtes sein, seinen Geist zu manipulieren. Mittels Hypnose kann ich ihn dazu bringen, den Großteil der Informationen seiner erhöhten Intelligenz preiszugeben.
    Ich prüfe seine körperlichen Reaktionen und beobachte, wie sie seine nachlassende Intelligenz verraten. Der Niedergang ist unverkennbar.
    Und dann kommt er zum Stillstand.
    Reynolds befindet sich im Gleichgewicht. Ich bin verblüfft. Es ist ihm gelungen, den sich selbst verstärkenden Mechanismus zu durchbrechen. Er hat den raffiniertesten Angriff aufgehalten, zu dem ich fähig war.
    Als Nächstes bringt er den von mir angerichteten Schaden in Ordnung. Obwohl seine Fähigkeiten anfangs noch vermindert sind, kann er die Neurotransmitter wieder ausbalancieren. Binnen Sekunden ist Reynolds wieder vollständig hergestellt.
    Er hat mich ebenso leicht durchschaut wie ich ihn. Während unseres Gesprächs hat er geschlussfolgert, dass ich selbstverstärkende Biofeedbacks erforscht habe, und während wir miteinander kommuniziert haben, hat er, ohne dass ich es bemerkte, allgemeine Abwehrmaßnahmen eingeleitet. Anschließend hat er während meines Angriffs die Besonderheiten meiner Methode wahrgenommen und herausgefunden, wie er die Wirkung umkehren kann. Seine Einsicht, seine Geschwindigkeit, seine Schläue sind frappierend.
    Er zollt meinen Fähigkeiten Anerkennung. Unvermittelt zeigt er mir eine weitere Körpersignatur, eine, die ich wiedererkenne. Er hat sie vor drei Tagen benutzt, als er in einem Supermarkt hinter mir herging. Der Gang war voller Menschen; in meiner Nähe befanden sich eine alte Frau, die hinter ihrem Luftfilter schnaufte, und ein ausgemergelter Jugendlicher auf LSD in einem Shirt aus Flüssigkristallen, dessen psychedelisches Muster sich dauernd veränderte. Reynolds trat unbemerkt hinter mich und konzentrierte sich dabei auf den Ständer mit den Pornomagazinen. Bei der Beschattung hat er zwar nichts von

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