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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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kratzen.
    Nachdem Renee die Seite zu etwa zwei Dritteln vollgeschrieben hatte, begann sie, die langen Zeichenketten immer mehr zu verkürzen. Und jetzt kommt der letzte Streich , dachte sie. Sie merkte, dass sie den Stift übermäßig aufdrückte, und entspannte bewusst ihre Schreibhand. In der nächsten Zeile wurde die Abfolge der Zeichen in beiden Spalten identisch. Schwungvoll schrieb sie quer über die Mittellinie ein »=«.
    Sie reichte Karl das Blatt, der sie sichtlich verständnislos ansah. »Sieh dir den oberen Teil an.« Er tat es. »Und jetzt den unteren.«
    Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«
    »Ich bin auf eine Formel gestoßen, durch die sich jede Zahl mit jeder beliebigen anderen Zahl gleichsetzen lässt. Auf diesem Blatt hier steht der Beweis, dass eins und zwei gleich sind. Nimm jedes beliebige Zahlenpaar, und ich beweise dir, dass sie ebenfalls gleich sind.«
    Karl versuchte offenbar, sich an etwas zu erinnern. »Du teilst durch null, oder?«
    »Nein. Es gibt keine unzulässigen Rechenoperationen, keine unzureichend definierten Terme, keine nicht zugehörigen Axiome, die implizit darin enthalten sind, nichts. Der Beweis enthält absolut nichts Verbotenes.«
    Carl schüttelte den Kopf. »Moment mal. Eins und zwei sind doch ganz offensichtlich nicht gleich.«
    »Aber formal sind sie es, du hältst den Beweis in der Hand. Ich habe dabei nur das verwendet, was man als absolut unbestreitbar ansieht.«
    »Aber da steckt doch ein Widerspruch drin.«
    »Ganz genau. Arithmetik als formales System ist nicht konsistent.«
    6b
    »Du findest den Fehler nicht – ist es das, was du sagen willst?«
    » Nein , du hörst mir nicht zu. Glaubst du etwa, ich wäre einfach nur wegen so etwas frustriert? Der Beweis enthält keinen Fehler.«
    »Du meinst, bei den allgemein akzeptierten Voraussetzungen stimmt etwas nicht?«
    »Genau.«
    »Bist du…« Er hielt inne, doch zu spät. Sie starrte ihn finster an. Natürlich war sie sicher. Er dachte über ihre Worte nach.
    »Verstehst du?«, fragte Renee. »Ich habe gerade fast die gesamte Mathematik widerlegt. Damit hat sie keine Bedeutung mehr.«
    Sie wirkte immer aufgeregter, fast schon verstört. Karl wählte seine Worte mit Bedacht. »Das kannst du doch so nicht sagen! Die Mathematik funktioniert doch noch. Die Wissenschaft und die Wirtschaft werden durch diese Erkenntnis nicht in sich zusammenstürzen.«
    »Das kommt daher, dass die dort verwendete Mathematik nur Spielerei ist. Eselsbrücken, so ähnlich, wie wenn man seine Fingerknöchel abzählt, um herauszufinden, welche Monate einunddreißig Tage haben.«
    »Das ist nicht das Gleiche.«
    »Warum denn nicht? Ab jetzt hat Mathematik absolut gar nichts mehr mit der Realität zu tun. Du musst nicht einmal Begriffe wie imaginäre oder unendliche Zahlen nehmen. Verdammt, ab jetzt hat die Addition ganzer Zahlen nichts mehr mit dem zu tun, was du mit den Fingern abzählst. Wenn du mit den Fingern rechnest, kommt bei eins plus eins immer zwei heraus, aber auf dem Papier kann ich dir unendlich viele Lösungen zeigen, und sie sind alle gleich richtig und daher auch alle gleich falsch. Ich könnte ein Theorem schreiben, wie du nie ein eleganteres gesehen hast, und es hätte nicht mehr Bedeutung als irgendeine sinnlose Gleichung.« Sie lachte bitter. »Die Positivisten haben immer gesagt, die ganze Mathematik sei eine Tautologie. Sie haben sich gründlich geirrt: Sie ist ein Widerspruch in sich.«
    Carl versuchte es noch einmal anders. »Moment. Du hast gerade von imaginären Zahlen gesprochen. Wieso ist das hier schlimmer als das damals bei denen? Früher dachten die Mathematiker, sie wären bedeutungslos, aber inzwischen betrachtet man sie als fundamental. Das hier ist genau das Gleiche.«
    »Es ist nicht das Gleiche. Damals konnte man das Problem lösen, indem man einfach den Kontext erweiterte, aber das wird hier gar nichts nützen. Die imaginären Zahlen haben etwas Neues in die Mathematik gebracht, aber mein Verfahren definiert etwas neu, das schon existiert.«
    »Aber wenn du den Kontext veränderst, es in einem anderen Licht betrachtest …«
    Sie verdrehte die Augen. »Nein! Das hier folgt aus den Axiomen ebenso zwingend wie die Addition. Es gibt kein Schlupfloch. Glaub es mir einfach.«
    7
    Im Jahr 1936 erbrachte Gerhard Gentzen einen Beweis der Widerspruchsfreiheit der Arithmetik, aber dafür musste er eine umstrittene Methode benutzen, die man als transfinite Induktion bezeichnet. Diese Technik gehört nicht

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