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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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zunächst gedacht, es sei nur eine Kleinigkeit. Sie war durch den Flur gegangen und hatte bei Peter Fabrisi an die offen stehende Bürotür geklopft. »Peter, hast du einen Augenblick Zeit?«
    Fabrisi sah von seinem Schreibtisch auf. »Klar, was ist?«
    Schon beim Eintreten wusste Renee, wie er reagieren würde. Noch nie hatte sie jemanden in der Abteilung bei etwas um Rat gefragt, immer war es umgekehrt gewesen. Egal. »Ich wollte dich fragen, ob du mir einen Gefallen tun kannst. Weißt du noch, was ich dir vor zwei Wochen erzählt habe – über dieses Verfahren, an dem ich arbeite?«
    Er nickte. »Das, mit dem du Axiomsysteme neu schreibst.«
    »Genau. Also, vor ein paar Tagen habe ich auf einmal ganz alberne Ergebnisse bekommen, und inzwischen widerspricht sich meine Formel selbst. Könntest du sie dir mal anschauen?«
    Fabrisi machte genau das Gesicht, das sie erwartet hatte. »Du meinst – klar, gern.«
    »Prima. Der Knackpunkt steckt in den Beispielen auf den ersten Seiten, der Rest ist nur Erläuterung.« Sie drückte Fabrisi ein paar Blätter in die Hand. »Ich dachte mir, wenn ich es dir erkläre, siehst du nur die gleichen Dinge wie ich.«
    »Wahrscheinlich hast du recht.« Fabrisi betrachtete die ersten beiden Seiten. »Ich weiß nicht, wie lange ich brauche.«
    »Nur keine Eile. Wenn du dazu kommst, schau einfach, wo meine Prämissen nicht so recht überzeugen oder so. Ich mache damit weiter, falls mir also was auffällt, sag ich es dir. Okay?«
    Fabrisi lächelte. »Bestimmt kommst du noch heute Nachmittag und erzählst mir, dass du’s gefunden hast.«
    »Wohl kaum. Daran muss man unvoreingenommen herangehen.«
    Er hob resigniert die Hände. »Ich versuch’s.«
    »Danke.« Fabrisi würde ihr Verfahren vermutlich nicht vollständig begreifen, aber sie brauchte nur jemanden, der die mechanischen Aspekte abklopfte.

    4b
    Carl hatte Renee auf der Party eines Kollegen kennengelernt. Es war ihr Gesicht, von dem er angetan war. Sie war eher unscheinbar und wirkte meistens ernst. Doch auf der Party sah er sie zweimal lächeln und einmal die Stirn runzeln, und jedes Mal schien sie vollkommen verwandelt, als hätte sie nie einen anderen Ausdruck gekannt. Carl hatte gestaunt – sonst sah er es einem Gesicht an, ob jemand oft lächelte oder die Augenbrauen zusammenzog, auch wenn der Betreffende faltenlos war. Gerne hätte er gewusst, wie es dazu gekommen war, dass ihr Gesicht mit so vielen Ausdrücken vertraut schien, im Normalzustand jedoch nichts preisgab.
    Er brauchte lange, um Renee zu verstehen und ihre Mimik zu deuten. Aber es hatte sich auf jeden Fall gelohnt.
    Nun saß Carl im Sessel seines Büros, auf den Beinen die neueste Ausgabe der Marine Biology , und horchte auf die Geräusche von Renee, die gegenüber in ihrem Arbeitszimmer Papier zerknüllte. Den ganzen Abend hatte sie gearbeitet, ganz offensichtlich mit wachsender Frustration, auch wenn sie, als er zuletzt nach ihr geschaut hatte, wie üblich ein ausdrucksloses Gesicht aufgesetzt hatte.
    Er legte die Zeitschrift beiseite, stand auf und ging zum Eingang ihres Arbeitszimmers hinüber. Auf ihrem Schreibtisch lag aufgeschlagen ein Buch, dessen Seiten von den üblichen unverständlichen Gleichungen bedeckt waren. Dazwischen waren russische Kommentare eingestreut.
    Sie überflog einen Teil, verwarf ihn mit einem kaum wahrnehmbaren Stirnrunzeln und schlug das Buch heftig zu. Carl hörte, wie sie »nutzlos« murmelte, dann stellte sie den Band ins Regal zurück.
    »Du bekommst noch zu hohen Blutdruck, wenn du so weitermachst«, scherzte Carl.
    »Hör auf, mich zu bevormunden.«
    Carl war bestürzt. »Das tue ich doch nicht.«
    Renee drehte sich um und blickte ihn finster an. »Ich weiß, wann ich zu produktiver Arbeit fähig bin und wann nicht.«
    Ganz ruhig . »Dann will ich dich nicht weiter stören.« Er zog sich zurück.
    »Danke.« Sie wandte sich wieder dem Bücherregal zu. Carl ging und versuchte, sich darüber klar zu werden, was ihr finsterer Blick zu bedeuten hatte.
    5
    Beim Zweiten Internationalen Mathematiker-Kongress im Jahr 1900 listete David Hilbert die seiner Meinung nach dreiundzwanzig wichtigsten ungelösten mathematischen Probleme auf. Punkt zwei auf seiner Liste war der Beweis, dass die arithmetischen Axiome widerspruchsfrei seien. Ein solcher Beweis hätte die Widerspruchsfreiheit eines Großteils der höheren Mathematik garantiert. Im Grunde musste dieser Beweis sicherstellen, dass eins unter keinen Umständen gleich zwei sein

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