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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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nicht.«
    »Dann erklär es mir doch.«
    Renee atmete aus und wandte sich ab, um einen Augenblick lang nachzudenken. »Es ist, als würde mir einfach alles um mich herum den Widerspruch entgegenschreien«, sagte sie. »Inzwischen bilde ich die ganze Zeit Gleichungen, nach denen irgendwelche Zahlen gleich sind.«
    Carl schwieg. Dann begriff er plötzlich und sagte: »Wie die früheren Physiker, als sie mit der Quantenmechanik konfrontiert waren. Als wäre eine Theorie, an die du immer geglaubt hast, hinfällig, und die neue ergibt keinen Sinn, aber irgendwie scheinen alle Beweise sie zu stützen.«
    »Nein, so ist es überhaupt nicht«, widersprach sie, und es klang beinahe verächtlich. »Das hier hat überhaupt nichts mit Empirie zu tun, es ist alles rein deduktiv.«
    »Worin besteht der Unterschied? Führst du nicht einfach Beweise mittels deiner Logik?«
    »Herrgott, soll das ein Witz sein? Der Unterschied besteht darin, dass man in dem einen Fall überprüft, ob zwei Messungen gleich sind, während man es in meinem Fall einfach weiß. Ich kann das Konzept unterschiedlicher Mengen in meinem Kopf nicht mehr aufrechterhalten. Für mich sind sie alle gleich.«
    »Das meinst du nicht ernst«, sagte er. »Niemand könnte wirklich so empfinden. Das ist, als würdest du noch vor dem Frühstück an sechs verschiedene Dinge glauben.«
    »Woher willst du wissen, wie ich empfinden kann?«
    »Ich versuche, es nachzuvollziehen.«
    »Lass es lieber.«
    Carl war mit seiner Geduld am Ende. »Wie du willst.« Er verließ das Zimmer und stornierte die Reservierungen.
    Danach redeten sie kaum noch miteinander und sprachen nur noch, wenn es nötig war. Drei Tage später vergaß Carl, die Schachtel mit den Objektträgern mitzunehmen, fuhr zurück nach Hause und fand ihre Nachricht auf dem Esstisch.
    Unmittelbar darauf gingen Carl zwei Dinge auf. Die erste Erkenntnis kam ihm, als er durch das Haus rannte und sich fragte, ob sie sich aus der Fakultät für Chemie Zyankali besorgt hatte: nämlich dass er, weil er nicht begriff, was sie zu einer solchen Tat getrieben hatte, rein gar nichts für sie empfand.
    Die zweite Erkenntnis kam ihm, als er schreiend an ihre Schlafzimmertür hämmerte – er hatte ein Déjà-vu. Es war das einzige Mal, dass die Situation ihm vertraut erschien, und doch hatte sie sich auf groteske Weise ins Gegenteil verkehrt. Er erinnerte sich, wie er selbst hinter einer abgeschlossenen Tür auf einem Hausdach gestanden hatte, während ein Freund gegen die Tür hämmerte und ihn anschrie, es nicht zu tun. Und nun, während er draußen vor der Schlafzimmertür stand, hörte er sie weinen, auf dem Boden liegend, gelähmt vor Scham, genau wie damals er selbst, als er sich auf der anderen Seite befunden hatte.
    8
    Hilbert sagte einmal: »Wenn mathematisches Denken fehlerhaft ist, wo sollen wir dann Wahrheit und Gewissheit finden?«
    8a
    Würde ihr Selbstmordversuch sie für den Rest ihres Lebens brandmarken?, fragte sich Renee. Sie ordnete die Blätter auf ihrem Schreibtisch. Würden die Menschen sie von nun an, vielleicht auch unbewusst, als unbeständig oder labil ansehen? Sie hatte Carl nie gefragt, ob er je solche Befürchtungen gehegt hatte – vielleicht, weil sie ihm seinen Selbstmordversuch nie vorgehalten hatte. Der war viele Jahre her, und wenn man Carl jetzt sah, merkte man, dass er heil und gesund war.
    Doch von sich selbst konnte Renee das nicht sagen. Im Moment war sie nicht in der Lage, vernünftig über Mathematik zu sprechen, und sie wusste nicht genau, ob sie es je wieder würde tun können. Hätten ihre Kollegen sie so erlebt, hätten sie gesagt, dass sie es nicht mehr draufhatte.
    Als sie fertig war, verließ Renee das Arbeitszimmer und ging ins Wohnzimmer. Sobald ihre Formel in der akademischen Welt die Runde machte, würde sie die Grundlagen der Mathematik auf den Kopf stellen, aber nur wenigen Menschen würde das so zusetzen wie ihr. Die meisten würden reagieren wie Fabrisi – sie würden den Beweis formal nachvollziehen, er würde sie überzeugen, mehr aber auch nicht. Nur die Menschen, die den Widerspruch tatsächlich begriffen und ihn erfassten, würden ihn so tief empfinden wie sie. Callahan gehörte zu ihnen. Wie er wohl mittlerweile damit zurechtkam?
    Auf einem Beistelltischchen zeichnete Renee ein Rankenmuster in den Staub. Früher hätte sie vielleicht beiläufig die Parameter der Kurven bestimmt und sie auf einige Charakteristika hin untersucht. Nun erschien ihr das sinnlos. Alle

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