Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
vor beinahe zwanzig Jahren entlassen worden war. Seine Eltern hatten ihn abgeholt, auf der Rückfahrt hatte seine Mutter irgendeine dumme Bemerkung darüber gemacht, wie sehr alle sich freuen würden, ihn zu sehen, und er hatte sich sehr zusammenreißen müssen, um nicht ihren Arm abzuschütteln, den sie ihm um die Schulter gelegt hatte.
Er hatte für Renee das getan, was er sich selbst damals im Krankenhaus gewünscht hätte. Jeden Tag hatte er sie besucht, obwohl sie ihn zunächst nicht hatte sehen wollen – um da zu sein, wenn sie schließlich dazu bereit war. Manchmal hatten sie sich unterhalten, und manchmal hatten sie einfach Spaziergänge über das Anstaltsgelände gemacht. Er fand, dass er sich richtig verhielt, und er wusste, dass sie ihm dankbar war.
Doch trotz aller Bemühungen empfand er ihr gegenüber nichts außer Pflichtgefühl.
3
In den Principia Mathematica versuchten Bertrand Russell und Alfred Whitehead, ausgehend von formaler Logik, der Mathematik eine exakte Grundlage zu geben. Sie begannen mit dem, was sie als Axiome ansahen, und entwickelten daraus immer komplexere Lehrsätze. Auf Seite 362 waren sie so weit, dass sie »1 + 1 = 2« beweisen konnten.
3a
Als Renee im Alter von sieben Jahren einmal die glatten Marmorfliesen eines Fußbodens im Haus eines Verwandten entdeckt hatte, war sie von den perfekten Quadraten verzaubert gewesen. Eine einzelne Fliese, zwei Zweierreihen, drei Dreierreihen, vier Viererreihen: Die Fliesen fügten sich zu einem Quadrat . Natürlich. Egal, von welcher Seite aus man es betrachtete, es kam immer das Gleiche heraus. Und nicht nur das, jedes Quadrat enthielt eine ungerade Anzahl Fliesen mehr als das vorherige. Es war eine Offenbarung. Das Ergebnis war von bestechender Logik: Es lag Wahrheit darin, die von der kühlen, glatten Oberfläche der Fliesen bestätigt wurde. Und wie die Fliesen zusammenpassten und dort, wo sie einander berührten, unfassbar dünne Linien bildeten – diese Präzision hatte Renee erzittern lassen.
Später folgten weitere Erkenntnisse, weitere Leistungen. Die erstaunliche Dissertation mit dreiundzwanzig Jahren, danach mehrere Veröffentlichungen, für die sie viel Bewunderung erntete. Man hatte sie mit von Neumann verglichen, Universitäten hatten sie umworben. All dem hatte sie nie viel Beachtung geschenkt. Ihr ging es um jenes Gefühl der Wahrheit, das in jedem neuen Theorem steckte, so eindringlich wie die Beschaffenheit der Fliesen und so exakt wie deren Fugen.
3b
Nach Carls Meinung war der Mensch, der er heute war, nach seinem Selbstmordversuch geboren worden, und zwar, als er Laura kennengelernt hatte. Nach der Entlassung aus der Psychiatrie war er nicht in der Stimmung gewesen, sich mit anderen Leuten zu treffen. Doch einem seiner Freunde war es gelungen, ihn mit Laura bekannt zu machen. Zuerst hatte er sie auf Abstand gehalten, doch sie war klüger gewesen. Sie hatte ihn geliebt, solange es ihm schlecht ging, und ihn freigegeben, als er geheilt war. Durch sie hatte Carl viel über Empathie gelernt und war ein neuer Mensch geworden.
Nachdem sie ihren Master gemacht hatte, war Laura weggezogen, während er an der Universität geblieben war, um in Biologie zu promovieren. In späteren Jahren hatte er noch einige Krisen und auch Liebeskummer durchgemacht, aber er war nie wieder verzweifelt.
Voll Staunen dachte Carl daran, was für ein Mensch sie gewesen war. Seit dem Studium hatte er nichts mehr von ihr gehört. Wie war es ihr seither ergangen? Wen hatte sie wohl später geliebt? Schon sehr früh hatte er begriffen, was für eine Liebe das war und welche Art von Liebe es nicht war, und seine Wertschätzung für diese Liebe war grenzenlos.
4
Im frühen 19. Jahrhundert begannen Mathematiker, Geometrien zu erschließen, die sich von der euklidischen Geometrie unterschieden. Diese neuen Geometrien führten zu Ergebnissen, die völlig absurd schienen, jedoch keine logischen Widersprüche beinhalteten. Später erwies sich, dass diese nicht-euklidischen Geometrien in Bezug auf die euklidische Geometrie konsistent waren: Sie waren in sich widerspruchsfrei – unter der Voraussetzung, dass die euklidische Geometrie widerspruchsfrei war.
Den Mathematikern gelang es nicht, die Konsistenz der euklidischen Geometrie zu beweisen. Am Ende des 19. Jahrhunderts war man nicht weitergekommen als bis zu dem Beweis, dass euklidische Geometrie konsistent war, solange die Arithmetik konsistent war.
4a
Damals, als alles begann, hatte Renee
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