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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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zu den üblichen Beweismethoden, und sie schien kaum angemessen, um die Widerspruchsfreiheit der Arithmetik zu beweisen. Gentzen hatte das Offensichtliche bewiesen, indem er vom Zweifelhaften ausging.
    7a
    Callahan hatte von Berkeley aus angerufen, jedoch keine Lösung präsentieren können. Er sagte, er werde ihre Arbeit weiter durchgehen, doch es sehe so aus, als sei sie auf etwas Fundamentales und zutiefst Beunruhigendes gestoßen. Er wollte wissen, wie es mit der Veröffentlichung ihres Beweises aussehe, denn falls dieser einen Fehler enthalte, den keiner von ihnen finden könne, würde das anderen Mathematikern sicherlich gelingen.
    Renee war kaum in der Lage gewesen, ihm zuzuhören, und murmelte, sie werde sich bei ihm melden. In letzter Zeit, besonders seit dem Streit mit Carl, fiel es ihr schwer, mit anderen Menschen zu sprechen. Die Mitglieder der Abteilung mieden sie zunehmend. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren, und vergangene Nacht hatte sie geträumt, sie hätte einen Formalismus entwickelt, mit dem sie jegliche Gedanken und Vorstellungen in mathematische Gleichungen umwandeln konnte. Als Nächstes hatte sie bewiesen, dass das Leben das Gleiche war wie der Tod.
    Das war etwas, das ihr Angst einjagte – dass sie womöglich den Verstand verlor. Jedenfalls kam ihr die Klarheit des Denkens immer mehr abhanden, und das war dem Wahnsinn recht ähnlich.
    Was bist du nur für ein albernes Frauenzimmer, schalt sie sich. Hat Gödel sich etwa umbringen wollen, nachdem er seinen Unvollständigkeitssatz formuliert hatte?
    Aber dieser war schließlich auch wunderschön, tiefgründig, einer der elegantesten mathematischen Sätze, die Renee je gesehen hatte.
    Ihr eigener Beweis schien sie zu verhöhnen und zu verspotten. Wie eine Knobelaufgabe schien er zu sagen: Ätsch, du hast den Fehler übersehen – sieh zu, dass du herausfindest, an welcher Stelle du es vermasselt hast. Nur um ihr danach eine Nase zu drehen und sie erneut mit Spott zu überschütten.
    Vermutlich würde Callahan über den Folgen brüten, die ihre Entdeckung für die Mathematik hatte. Für so vieles in der Mathematik gab es keinerlei Anwendung in der Praxis, so vieles existierte nur als formale Theorie und wurde lediglich um seiner intellektuellen Schönheit willen studiert. Doch das konnte nicht so bleiben. Eine in sich selbst widersprüchliche Theorie war so sinnlos, dass die meisten Mathematiker sie angewidert verwerfen würden.
    Was Renee wirklich aufbrachte, war die Art, wie ihre eigene Intuition sie getrogen hatte. Das verdammte Theorem war schlüssig, auf seine ganz eigene, verdrehte Weise, es fühlte sich richtig an. Sie verstand es, wusste, warum es richtig war, glaubte daran.
    7b
    Bei dem Gedanken an ihren Geburtstag lächelte Carl.
    »Nicht zu glauben! Woher wusstest du denn das?« Mit einem Pullover in den Händen war sie die Treppe heruntergelaufen.
    Im letzten Sommer waren sie im Urlaub nach Schottland gefahren, und in einem Laden in Edinburgh hatte Renee einen Pullover bewundert, ihn jedoch nicht gekauft. Er hatte ihn bestellt und ihr in den Schrank gelegt, wo sie ihn an jenem Morgen fand.
    »Du bist eben so leicht zu durchschauen«, hatte er sie geneckt. Sie wussten beide, dass es nicht stimmte, aber er sagte ihr das gern.
    Das war vor zwei Monaten gewesen. Vor knapp zwei Monaten.
    So wie die Dinge nun lagen, musste er anders vorgehen. Carl betrat Renees Arbeitszimmer, wo sie auf ihrem Stuhl saß und aus dem Fenster starrte. »Rat mal, was ich für uns habe.«
    Sie blickte auf. »Was denn?«
    »Eine Reservierung fürs Wochenende. Eine Suite im Biltmore. Wir können ausspannen und einfach mal nichts tun …«
    »Bitte hör auf«, sagte Renee. »Ich weiß, worauf du hinauswillst, Carl. Du möchtest etwas Nettes unternehmen, um mich von dieser Formel abzulenken. Aber das klappt nicht. Du hast keine Ahnung, wie sehr mich die Sache beschäftigt.«
    »Ach komm.« Er fasste sie an den Händen und wollte sie hochziehen, doch sie entzog sich ihm. Carl blieb stehen, und plötzlich drehte sie sich um und sah ihm in die Augen.
    »Weißt du, dass ich schon kurz davor war, Beruhigungsmittel zu nehmen? Am liebsten wäre ich dumm, dann müsste ich nicht mehr darüber nachdenken.«
    Er war bestürzt. Unsicher sagte er: »Willst du nicht wenigstens mal eine Weile weg von hier? Es würde sicher nicht schaden, und vielleicht würde es dich auf andere Gedanken bringen.«
    »Ich kann jetzt nicht auf andere Gedanken kommen. Du verstehst das einfach

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