Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
konnte. Nur wenige Mathematiker sahen darin eine Frage von großer Bedeutung.
5a
Noch ehe Fabrisi den Mund aufmachte, wusste Renee, was er sagen würde.
»Das war das Vertrackteste, was ich je gesehen habe. Du kennst doch dieses Steckspiel für kleine Kinder, wo man Klötze mit unterschiedlichen Formen in die passenden Öffnungen stecken muss? Wenn man deine Formelherleitung liest, ist es, als würde man ein Klötzchen in jede dieser Öffnungen stecken, und jedes Mal würde es perfekt passen.«
»Dann hast du den Fehler nicht gefunden?«
Er schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich bin inzwischen genauso betriebsblind wie du, ich kann das nur noch aus einem Blickwinkel sehen.«
Renee war nicht mehr betriebsblind, inzwischen hatte sie einen völlig anderen Zugang zu der Fragestellung gefunden, der den Widerspruch, der ihr aufgefallen war, jedoch nur bestätigte. »Okay. Danke, dass du es versucht hast.«
»Willst du noch jemand anders draufschauen lassen?«
»Ja, ich werde es wohl zu Callahan nach Berkeley schicken. Wir stehen seit der Konferenz im letzten Frühjahr miteinander in Kontakt.«
Fabrisi nickte. »Seine letzte Veröffentlichung hat mich sehr beeindruckt. Sag Bescheid, wenn er es herausbekommt, ich bin neugierig.«
Renee selbst hätte ein deutlich stärkeres Wort gebraucht als »neugierig«.
5b
War Renee einfach nur von ihrer Arbeit frustriert? Carl wusste, dass sie Mathematik niemals als wirklich schwierig empfunden hatte, sondern lediglich als intellektuelle Herausforderung. War es möglich, dass sie zum ersten Mal bei einem Problem nicht weiterkam? Funktionierte Mathematik überhaupt so? Carl selbst war ein ausgesprochener Empiriker. Er hatte keine Ahnung, wie Renee in der Mathematik Neues entwickelte. Auch wenn es albern klang – vielleicht gingen ihr ja die Ideen aus?
Renee war zu alt, um noch enttäuscht von der Erkenntnis zu sein, dass sie als Kind ein Wunderkind gewesen, als Erwachsene jedoch nur noch Durchschnitt war. Allerdings schrieben viele Mathematiker ihre besten Arbeiten vor dem dreißigsten Geburtstag, und vielleicht hatte sie immer mehr Angst davor, dass die Statistik sie einholte, wenn auch einige Jahre später als üblich.
Kaum wahrscheinlich. Flüchtig ging er mehrere Alternativen durch. Wurde sie vielleicht allmählich zynisch, was den akademischen Betrieb anging? War sie über die übermäßige Spezialisierung ihrer Forschung unglücklich? Oder hatte sie die Arbeit einfach satt?
Doch mit solchen Nöten hatte Renees Verhalten Carls Meinung nach nichts zu tun. Er konnte sich recht gut vorstellen, was er dann mit ihr erlebt hätte, und es passte nicht zu dem, was er zurzeit wahrnahm. Was Renee quälte, überstieg sein Verständnis, und das beunruhigte ihn.
6
Im Jahr 1931 formulierte Kurt Gödel zwei mathematische Sätze. Der erste besagt sinngemäß, dass die Mathematik Aussagen enthält, die zwar wahr, jedoch per se nicht beweisbar sind. Selbst ein so einfaches formales System wie die arithmetischen Axiome lässt Aussagen zu, die exakt, eindeutig und offensichtlich wahr sind, die man jedoch mit formalen Mitteln nicht beweisen kann.
Sein zweiter Lehrsatz zeigt, dass die Behauptung der Widerspruchsfreiheit der arithmetischen Axiome eine solche Aussage ist – mithilfe der arithmetischen Axiome kann man sie nämlich nicht beweisen. Das bedeutet, die Arithmetik als formales System kann Ergebnisse wie »1=2« nicht ausschließen. Möglicherweise wird man nie auf einen solchen Widerspruch stoßen, aber man kann nicht beweisen, dass es nie geschehen wird.
6a
Wieder einmal war er in ihr Arbeitszimmer gekommen. Renee sah von ihrem Schreibtisch auf und blickte Carl an. Entschlossen begann er: »Renee, ganz offensichtlich …«
Sie schnitt ihm das Wort ab. »Du willst wissen, was mich beschäftigt? Gut, ich sag es dir.« Renee nahm ein leeres Blatt und setzte sich an den Schreibtisch. »Einen Moment, es dauert nur ganz kurz.« Wieder machte Carl den Mund auf, doch Renee bedeutete ihm zu schweigen, holte tief Luft und begann zu schreiben.
Sie zog einen senkrechten Strich auf dem Blatt und unterteilte die Seite damit in zwei Spalten. Über die eine Spalte schrieb sie »1« und über die andere »2«. Darunter kritzelte sie rasch ein paar Zeichen, die sie in den folgenden Zeilen zu längeren Abfolgen erweiterte. Beim Schreiben biss sie die Zähne zusammen; die Zeichen zu Papier zu bringen, fühlte sich an, als würde sie mit den Fingernägeln über eine Kreidetafel
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