Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Anschauung fiel einfach in sich zusammen.
Wie so viele Menschen hatte sie immer gedacht, die Mathematik würde ihre Bedeutung nicht aus dem Universum beziehen, sondern vielmehr dem Universum seine Bedeutung verleihen. Auf physikalischer Ebene war ein Ding nicht mehr oder weniger bedeutsam als ein anderes, nicht ähnlich oder unähnlich, sondern es war einfach da, es existierte. Die Mathematik war zwar vollkommen eigenständig, aber sie verlieh den Dingen so etwas wie eine Bedeutung, stellte Kategorien und Beziehungen bereit. Sie beschrieb keinen Wert an sich, sondern nur eine mögliche Interpretation.
Aber damit war es nun vorbei. Losgelöst von der physikalischen Ebene war die Mathematik nicht konsistent, und eine formale Theorie, die nicht konsistent war, taugte nichts. Mathematik war nur noch empirisch, sonst nichts, und damit für sie uninteressant.
Womit würde sie sich jetzt beschäftigen? Renee hatte einmal jemanden kennengelernt, der die akademische Welt verlassen hatte, um handgearbeitete Lederwaren zu verkaufen. Sie würde ein wenig Zeit brauchen, um sich zu orientieren. Und bei genau dieser Aufgabe hatte Carl ihr die ganze Zeit zu helfen versucht.
8b
Unter Carls Freunden gab es zwei Frauen, die eng miteinander befreundet waren: Marlene und Anne. Als Marlene vor einigen Jahren an Selbstmord gedacht hatte, hatte sie sich nicht an Anne gewandt, sondern an Carl. Er und Marlene hatten ein paarmal die Nacht durchgemacht, geredet und miteinander geschwiegen. Carl wusste, dass Anne immer ein wenig neidisch auf das war, was er mit Marlene erlebt hatte; dass sie sich immer fragte, was er ihr voraushatte, um Marlene so nahe zu sein. Die Antwort war leicht. Es war der Unterschied zwischen Sympathie und Empathie.
Mehr als einmal im Verlauf seines Lebens hatte Carl in vergleichbaren Situationen anderen Menschen Trost gespendet. Natürlich hatte er gern geholfen, aber noch mehr als das war es ihm richtig erschienen, auf der anderen Seite zu sein, die andere Rolle zu spielen.
Mit gutem Grund war er bisher immer davon ausgegangen, dass Mitgefühl ein grundlegender Teil seiner Persönlichkeit war. Das bedeutete ihm viel; die Empathie war seine herausragende Stärke. Doch jetzt hatte er mit etwas zu tun, das er noch nie erlebt hatte, und sein gewohntes Feingefühl war plötzlich null und nichtig.
Hätte ihm an Renees Geburtstag jemand gesagt, dass er nur zwei Monate später so empfinden würde, hätte er diese Idee sofort abgetan. Natürlich, so etwas passierte manchmal im Lauf der Jahre, Carl wusste schließlich, was die Zeit anrichten konnte. Aber zwei Monate?
Nach sechs Jahren Ehe liebte er Renee nicht mehr. Carl verabscheute sich dafür, dass er so dachte, aber es war nun einmal Tatsache, dass sie sich verändert hatte, und inzwischen verstand er sie nicht mehr und wusste auch nicht, was er für sie empfinden sollte. Renees Intellekt und ihr Gefühlsleben waren untrennbar miteinander verflochten, und so war Letzteres für ihn unerreichbar geworden.
Seine automatische Reaktion bestand darin, sich selbst zu verzeihen und das damit zu begründen, dass man von niemandem erwarten konnte, jeder Krise gewachsen zu sein. Wenn die Ehefrau plötzlich von Wahnsinn befallen wurde, wäre es zwar verwerflich, wenn ihr Mann sie verließ, aber eine lässliche Sünde. Wenn er blieb, musste er sich auf eine andere Art von Beziehung einlassen – wofür nicht jedermann geschaffen war, und Carl hatte nie jemanden verurteilt, der sich in einer solchen Lage befand. Aber stets war da die unausgesprochene Frage gewesen: Was würde ich tun? Und seine Antwort war immer gewesen: Ich würde bleiben.
Heuchler.
Was am schlimmsten war: Er hatte das doch selbst durchgemacht. Er war selbst wie gelähmt gewesen vor Kummer, er hatte die Geduld anderer Menschen auf die Probe gestellt, und jemand hatte ihm durch diese Zeit geholfen. Es war nicht zu vermeiden, dass er Renee verließ, aber diese Sünde würde er sich nie verzeihen können.
9
Albert Einstein sagte einmal: »Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.«
9a = 9b
Carl war in der Küche und pulte Erbsen für das Abendessen, als Renee hereinkam. »Kann ich kurz mit dir sprechen?«
»Natürlich.« Sie setzten sich an den Esstisch. Sie blickte angestrengt aus dem Fenster, wie sie es immer tat, wenn sie ein ernstes Gespräch begann. Plötzlich fürchtete er
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