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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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sich davor, was sie sagen würde. Dass er sie verlassen würde, wollte er ihr erst sagen, wenn es ihr wieder richtig gut ging – in ein paar Monaten. Jetzt war es noch zu früh.
    »Ich weiß, ich habe es nicht so richtig gezeigt …«
    Nein, betete er, sag es nicht. Bitte sag es nicht.
    »… aber ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du hier bei mir bist.«
    Die Worte durchbohrten Carl, und er schloss die Augen, aber glücklicherweise blickte Renee immer noch aus dem Fenster. Es würde furchtbar schwer werden.
    Sie sprach immer noch. »Was da in meinem Kopf los war …« Sie hielt inne. »Das war schlimmer als alles, was ich je erlebt habe. Wenn es irgendwelche normalen Depressionen gewesen wären, hättest du Verständnis dafür gehabt, das weiß ich, und wir hätten damit umgehen können.«
    Carl nickte.
    »Aber das … Es war beinahe, als wäre ich Theologin und hätte bewiesen, dass es keinen Gott gibt. Als hätte ich nicht nur gezweifelt, sondern gewusst, dass es ihn nicht gibt. Klingt das absurd?«
    »Nein.«
    »Dieses Gefühl kann ich dir nicht vermitteln. Ich habe von ganzem Herzen und vorbehaltlos an etwas geglaubt, und es ist nicht wahr, und ich bin die, die es bewiesen hat.«
    Er machte den Mund auf und wollte ihr sagen, er wisse genau, was sie meine, dass es ihm genauso ergangen sei. Doch er schwieg. Denn dieses Mitgefühl trennte sie beide mehr, als es sie miteinander verband, und das konnte er ihr nicht sagen.

Zweiundsiebzig Buchstaben

Als er klein war, war Roberts liebstes Spielzeug etwas ganz Einfaches, eine Lehmpuppe, die nur geradeaus gehen konnte. Während seine Eltern draußen im Garten mit ihren Gästen zusammensaßen und über Königin Victorias Thronbesteigung oder die Reformen der Chartisten diskutierten, lief Robert der Puppe hinterher, die durch die Korridore seines Elternhauses auf- und abmarschierte, um die Ecke bog und wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrte. Die Puppe hörte nicht auf Befehle und zeigte keinerlei Anzeichen von Verstand; wenn sie gegen eine Wand stieß, marschierte die kleine Lehmfigur immer weiter, bis ihre Arme und Beine nach und nach zu unförmigen Flossen zerknautscht wurden. Manchmal ließ Robert das, nur zur eigenen Belustigung, geschehen. Wenn die Gliedmaßen der Puppe vollends deformiert waren, hob er die Spielfigur auf und zog den Namen heraus, wodurch sie mitten in der Bewegung erstarrte. Er knetete den Körper zu einem Klumpen, drückte ihn platt und formte daraus eine andere Figur – eine, bei der ein Bein verkrümmt oder länger als das andere war. Dann steckte er den Namen wieder hinein, und sofort begann die Puppe, mühsam schwankend einen kleinen Kreis abzugehen.
    Es war nicht das Modellieren, das Robert Spaß machte, vielmehr suchte er die Grenzen der Namen auszuloten. Er wollte herausfinden, wie stark er den Körper variieren konnte, ehe der Name ihn nicht mehr zu beleben vermochte. Um beim Modellieren Zeit zu sparen, ließ er meist die Details weg; er formte jede Figur nur so weit aus, wie es nötig war, um den Namen auszuprobieren.
    Eine andere seiner Puppen hatte vier Beine. Sie war hübsch, ein bis ins kleinste Detail ausgearbeitetes Porzellanpferd, aber Robert interessierte sich mehr dafür, mit dem Namen zu experimentieren. Dieser Name hörte auf Befehle, lief los oder blieb stehen und war sogar imstande, Hindernissen auszuweichen. Robert versuchte, ihn in seine selbstgemachten Figuren einzusetzen, doch dieser Name stellte höhere Anforderungen an den Körper, und Robert gelang es nie, einen Lehmkörper zu modellieren, dem er damit Leben einhauchen konnte. Er formte die Beine gesondert und klebte sie dann an den Körper, doch die Fugen ließen sich nicht gänzlich glätten; der Name akzeptierte den Körper nie als Einheit.
    Robert studierte die Namen selbst und suchte nach Merkmalen, die Zweibeinigkeit von Vierbeinigkeit unterschieden oder den Körper befähigten, einfache Befehle zu befolgen. Doch die Namen sahen vollkommen verschieden aus; jedes Pergamentstück war mit zweiundsiebzig winzigen hebräischen Buchstaben beschriftet, die in zwölf Zeilen zu je sechs Buchstaben unterteilt waren, und soweit er es beurteilen konnte, war die Anordnung völlig willkürlich.
    Robert und seine Klassenkameraden aus der vierten Klasse saßen still da, während Meister Trevelyan zwischen den Tischreihen auf- und abmarschierte.
    »Langdale, wie lautet der Lehrsatz über die Namen?«
    »Jedes Ding ist ein Abbild Gottes, und, äh, alle

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