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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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…«
    »Ersparen Sie uns Ihr Genuschel. Thorburn, können Sie uns vielleicht den Lehrsatz über die Namen nennen?«
    »Jedes Ding ist ein Abbild Gottes, daher spiegeln alle Namen den göttlichen Namen wider.«
    »Und was ist der wahre Name eines Objekts?«
    »Der Name, der den göttlichen Namen in derselben Weise widerspiegelt wie das Objekt Gott.«
    »Und worin besteht die Funktion eines wahren Namens?«
    »Er verleiht seinem Objekt einen Abglanz der göttlichen Kraft.«
    »Richtig. Halliwell, wie lautet die Lehre der Signaturen?«
    Der Unterricht in Naturphilosophie dauerte bis Mittag, aber weil es Samstag war, war der restliche Tag unterrichtsfrei. Master Trevelyan entließ die Klasse, und die Jungen der Cheltenham School stoben auseinander.
    Robert ging kurz zum Schlafsaal und traf sich dann am Rand des Schulgeländes mit seinem Freund Lionel. »Das Warten ist also vorbei? Heute ist es so weit?«, fragte Robert.
    »Habe ich doch gesagt, oder nicht?«
    »Dann mal los.« Die beiden machten sich auf und liefen die anderthalb Meilen zu Lionel nach Hause.
    Während seines ersten Jahres in Cheltenham hatte Robert Lionel kaum gekannt; Lionel gehörte zu den Tagesschülern, und wie alle Internatsjungen betrachtete Robert diese mit Misstrauen. Dann war Robert ihm ganz zufällig in den Ferien während eines Besuchs im Britischen Museum über den Weg gelaufen. Robert liebte das Museum: die hinfälligen Mumien und die gewaltigen Sarkophage; das ausgestopfte Schnabeltier und die eingelegte Meerjungfrau; die Wand, die über und über mit Elefantenstoßzähnen, Elchgeweihen und Einhornhörnern bedeckt war. An jenem Tag befand er sich im Saal mit den Elementargeistern – er las gerade die Plakette, auf der das Fehlen des Salamanders erklärt wurde –, als er plötzlich Leon erkannte, der direkt neben ihm stand und die Undine in ihrem Glas anstarrte. Im Gespräch entdeckten sie ihr gemeinsames Interesse an der Wissenschaft, und die beiden wurden rasch Freunde.
    Während sie die Straße hinuntergingen, kickten sie einen großen Kieselstein hin und her. Lionel schoss den Stein in Roberts Richtung und lachte, als er diesem zwischen die Knöchel rollte. »Ich musste unbedingt raus da«, sagte er. »Ich glaube, noch mehr Lehrsätze hätte ich nicht ausgehalten.«
    »Wieso nennt man es überhaupt Naturphilosophie?«, fragte Robert. »Sollen sie doch zugeben, dass es einfach eine Theologiestunde mehr ist.« Vor Kurzem hatten die beiden die Kleine Einführung in die Nomenklatur gekauft und so erfahren, dass Nomenklatoren heutzutage nicht mehr von Gott oder dem göttlichen Namen sprachen. Inzwischen glaubte man vielmehr, dass es genauso wie ein physikalisches auch ein lexikalisches Universum gab und dass erst durch die Vereinigung eines Objektes mit einem kompatiblen Namen ihr gemeinsames, verborgenes Potenzial offenbar wurde. Und es gab für ein Objekt auch nicht nur den einen, »wahren Namen«: Je nach Gestalt konnte ein Körper mit mehreren Namen kompatibel sein, die als seine »Euonyme« bezeichnet wurden; umgekehrt verkraftete ein einfacher Name beträchtliche Veränderungen der körperlichen Gestalt, wie es sich bei der Gehpuppe seiner Kindheit gezeigt hatte.
    Bei Lionel angekommen, versprachen sie der Köchin, gleich zum Essen zu erscheinen, und liefen dann nach hinten in den Garten. Lionel hatte einen Werkzeugschuppen im Garten seiner Familie zu einem Labor umfunktioniert, in dem er Experimente durchführte. Normalerweise kam Robert öfter vorbei, aber in letzter Zeit hatte Lionel an einem Versuch gearbeitet, den er geheim hielt. Erst jetzt war er bereit, Robert seine Ergebnisse zu zeigen. Lionel forderte Robert auf zu warten, während er als Erster hineinging, und schließlich ließ er ihn eintreten.
    Rundherum entlang der Schuppenwände lief ein langes Regalbrett, überbordend mit allerlei Gerätschaften – Gestelle mit Phiolen, zugestöpselte grüne Glasflaschen, Gesteins- und Mineralproben. Ein fleckiger Tisch voller Brandmale dominierte den beengten Raum, und darauf ruhte die Apparatur für Lionels jüngstes Experiment: ein großer, in eine Halterung eingespannter Rundkolben, der in ein Gefäß mit Wasser eintauchte, das wiederum auf einem Stativ über einer brennenden Öllampe stand. Außerdem war in dem Becken ein Quecksilberthermometer befestigt.
    »Schau es dir an«, sagte Lionel.
    Robert beugte sich vor, um den Inhalt des Kolbens zu betrachten. Zunächst schien es nur Schaum zu sein, wie er auch an einem Glas

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