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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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philosophischen und mathematischen Kontext gestellt wurde: Llulls Ars Magna , Agrippas De Occulta Philosphia , Dees Monas Hieroglyphica .
    Er lernte, dass jeder Name eine Kombination aus mehreren Epitheta war, von denen jedes eine bestimmte Eigenschaft oder Fähigkeit beschrieb. Auf Epitheta kam man, indem man alle Wörter mit einer bestimmten Bedeutung zusammentrug – Wörter gleicher Abstammung und Etyma, sowohl aus lebenden als auch aus toten Sprachen. Durch ein systematisches Austauschen und Kombinieren, durch die Permutation der Buchstaben konnte man die Essenz destillieren, die diesen Wörtern gemeinsam war und die das Epitheton einer bestimmten Eigenschaft darstellte. In manchen Fällen konnte man von den Epitheta durch Triangulation weitere Epitheta für Eigenschaften ableiten, die in keiner Sprache beschrieben wurden. Bei alldem kam es gleichermaßen auf Intuition wie auf systematisches Vorgehen an – die perfekte Permutation von Buchstaben war eine Kunst, die einen niemand lehren konnte.
    Er vertiefte sich in die modernen Verfahren der Zusammensetzung und Zerlegung von Substantiven; bei der Ersteren wurden mehrere knappe, bedeutungsschwangere Epitheta zu der scheinbar zufälligen Buchstabenfolge zusammengesetzt, aus denen ein Name bestand. Bei der Letzteren zerfiel ein Name in die Epitheta, die ihn erzeugt hatten. Nicht für jede Art der Zusammensetzung existierte eine entsprechende Zerlegungstechnik: Manchmal konnte ein mächtiger Name so umgeformt werden, dass daraus andere Epitheta entstanden als die, durch die man ihn erzeugt hatte, und die genau deswegen besonders wertvoll waren. Manche Namen konnten nicht zerlegt werden, und die Nomenklatoren arbeiteten an der Entwicklung neuer Verfahren, um ihnen ihre Geheimnisse zu entreißen.
    Die Nomenklatur machte zu jener Zeit eine tiefgreifende Wandlung durch. Lange Zeit hatte man zwei Klassen von Namen unterschieden: Die einen waren dazu da, einem Körper Leben einzuhauchen, die anderen dienten als Amulette. Man trug Gesundheitsamulette als Schutz vor Verletzung oder Krankheit, während andere das Haus vor Feuer schützen oder Schiffe vor dem Sinken bewahren sollten. In letzter Zeit jedoch begann die Unterscheidung zwischen diesen Gattungen zu verschwimmen, und die Ergebnisse waren erstaunlich.
    Die junge Wissenschaft der Thermodynamik, nach der Wärme und Arbeit austauschbar waren, hatte vor Kurzem erklären können, dass Automaten ihre Antriebskraft aus der Absorption der Umgebungswärme gewannen. Dank dieses besseren Verständnisses der Wärmeenergie hatte ein Namenmeister in Berlin eine neue Gattung von Amuletten entwickelt, die einen Körper dazu brachte, Wärmeenergie zu absorbieren und diese anderswo wieder abzugeben. Mit diesen Amuletten ließ sich eine einfachere und bessere Kühlung erreichen als durch die Verdunstung flüchtiger Stoffe, und das Verfahren fand kommerziell breite Anwendung. In ähnlicher Weise erleichterten Amulette die Weiterentwicklung von Automaten: Ein Nomenklator aus Edinburgh hatte Amulette entwickelt, die das Verlegen von Dingen verhindern sollten, und darauf aufbauend einen Haushaltsautomaten patentieren lassen, der in der Lage war, Objekte wieder an ihren richtigen Platz zurückzubringen.
    Nach den Abschlussprüfungen bezog Stratton eine Wohnung in London und fand eine Stelle als Nomenklator in der Coade-Manufaktur, einem der führenden Hersteller von Automaten in England.
    Strattons neuester Automat, aus Pariser Gips gefertigt, folgte ihm auf dem Fuß, als er das Fabrikgebäude betrat. Es war ein gewaltiger Backsteinbau, in dessen Dach Fenster eingelassen waren; in der einen Hälfte des Gebäudes war die Metallgießerei untergebracht, in der anderen die Keramikproduktion. In beiden Abteilungen führte ein verwinkelter Gang zu den verschiedenen Räumen, und jeder Raum beherbergte den jeweils nächsten Schritt in dem Prozess, bei dem aus dem Ausgangsmaterial ein Automat gefertigt wurde. Stratton und sein Automat betraten die Keramikabteilung.
    Sie gingen an einer Reihe flacher Wannen vorbei, in denen man den Ton anmischte. Jede enthielt eine andere Sorte – von gewöhnlicher roter Tonmasse bis zu erlesenem weißem Kaolin. Die Wannen sahen aus wie riesige Tassen, die man bis zum Rand mit heißer Schokolade oder Schlagsahne gefüllt hatte; nur der starke Geruch nach Mineralien zerstörte die Illusion. Die Paddel, mit denen der Ton umgerührt wurde, waren über ein Getriebe mit einer Antriebsachse verbunden, die direkt unter

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