Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Starkbier hätte herunterlaufen können. Doch bei näherem Hinsehen erkannte Robert, dass das, was er für Luftblasen gehalten hatte, in Wirklichkeit die Zwischenräume eines schimmernden, filigranen Geflechts waren. Die Masse bestand aus Homunkuli – winzigen Sperma-Föten. Für sich genommen war jeder von ihnen durchsichtig, doch zusammen verschmolzen ihre wulstigen Köpfe und fadendünnen Glieder zu einem blassen, dichten Schaum.
»Du hast also in ein Glasröhrchen gewichst?«, fragte er, und Lionel versetzte ihm einen Stoß. Robert lachte und hob beschwichtigend die Hände. »Nein, ehrlich, es ist ein Wunder. Wie hast du das gemacht?«
Besänftigt erwiderte Lionel: »Es ist eine ziemliche Gratwanderung. Natürlich muss die Temperatur genau stimmen, aber wenn man will, dass sie wachsen, muss man auch Nährstoffe in der richtigen Mischung und Konzentration dazugeben. Ist die Nährlösung zu dünn, verhungern sie. Gibt man zu viel Nährstoffe hinzu, dann drehen sie zu sehr auf und bekämpfen sich gegenseitig.«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Es stimmt wirklich; wenn du mir nicht glaubst, schlag es nach. Kämpfe unter Spermien sind das, was zu Missgeburten führt. Wenn der Fötus, der es bis zum Ei schafft, sich vorher verletzt, kommt das Baby mit Fehlbildungen zur Welt.«
»Ich dachte, das käme daher, dass die Mutter sich während der Schwangerschaft erschreckt.« Robert konnte das leise Gezappel der einzelnen Föten gerade noch mit bloßem Auge erkennen. Er sah, dass der Schaum durch ihre gemeinsamen Bewegungen wie in Zeitlupe leicht brodelte.
»Das gilt nur für manche Arten von Fehlbildungen, zum Beispiel, wenn den Babys überall Haare wachsen, oder wenn sie voller Pigmentflecken sind. Solche, die keine Arme oder Beine haben, oder missgebildete Babys – das sind die, die früher als Spermien in einen Kampf geraten sind. Deswegen darf die Nährlösung nicht zu konzentriert sein, besonders wenn sie nirgendwohin können, sonst drehen sie durch. Auf diese Weise kann man ziemlich schnell alle verlieren.«
»Wie lange kann man sie wachsen lassen?«
»Wahrscheinlich nicht mehr lange«, sagte Lionel. »Es ist schwer, sie am Leben zu erhalten, wenn sie nicht bis zu einem Ei gekommen sind. Ich hab über einen in Frankreich gelesen, der bis zu Faustgröße gewachsen ist, und die hatten dort eine erstklassige Laborausstattung. Ich wollte einfach nur sehen, ob ich es überhaupt schaffe.«
Robert starrte auf den Schaum und rief sich die Präformationslehre ins Gedächtnis, die Master Trevelyan ihnen eingebläut hatte: Alle Lebewesen waren vor langer Zeit gleichzeitig erschaffen worden, und die heutigen Geburten waren nur Vergrößerungen dessen, was man vorher nicht hatte wahrnehmen können. Auch wenn sie so aussahen, als wären sie gerade erst entstanden, waren diese Homunkuli viele Jahre alt; während der gesamten Menschheitsgeschichte hatten sie ineinander verschachtelt in ihren Vorfahren geruht und darauf gewartet, geboren zu werden.
Genau genommen hatten nicht nur sie gewartet; auch ihm selbst musste es vor seiner Geburt so ergangen sein. Hätte sein Vater dieses Experiment durchgeführt, wären die winzigen Gestalten, die Robert jetzt sah, seine ungeborenen Brüder und Schwestern. Er wusste, dass sie, bevor sie zu einem Ei gelangten, kein Bewusstsein hatten, fragte sich jedoch, was sie wohl denken würden, wenn sie doch eines hätten. Wie es sich wohl anfühlen musste, wenn der eigene Körper, jeder Knochen und jedes Organ, weich und durchsichtig wie Gelatine, an unzähligen identischen Geschwistern klebte? Wie es wohl wäre, durch transparente Augenlider zu schauen und zu begreifen, dass der Koloss in der Ferne eigentlich ein Mensch war, zu erkennen, dass es der eigene Bruder war? Wie wäre es zu wissen, dass man ebenso fest und undurchdringlich wie dieser Koloss werden könnte, wenn man es nur bis zu einem Ei schaffen würde? Kein Wunder, dass sie kämpften.
Robert Stratton schrieb sich am Trinity College in Cambridge ein, um Nomenklatur zu studieren. Dort las er jahrhundertealte kabbalistische Texte aus Zeiten, in denen man Nomenklatoren noch ba´alei shem und Automaten noch golem genannt hatte, Texte, die die Grundlage für die Wissenschaft der Namen gelegt hatten: die Sefer Jezirah , den Sodei Razayya des Eleazar von Worms und Abulafias Hayyei h-Olam ha-Ba . Anschließend studierte er die alchemistischen Abhandlungen, in denen die Technik der alphabetischen Manipulation in einen größeren
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