Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
zuvor hatte er ein kabbalistisches Notizbuch gesehen. Die Terminologie war zum großen Teil altertümlich, aber noch verständlich; zwischen Beschwörungsformeln und sephirothischen Zeichnungen stieß er auf das Epitheton, durch das ein Automat seinen eigenen Namen schreiben konnte. Beim Lesen wurde Stratton klar, dass Roths Methode eleganter war, als er zuvor angenommen hatte.
Das Epitheton beschrieb nicht etwa eine Abfolge von Bewegungen, sondern vielmehr eine allgemeine Idee der Rückbezüglichkeit. Aus einem Namen, der dieses Epitheton enthielt, wurde ein Autonym, ein sich selbst bezeichnender Name. Wie aus den Notizen hervorging, würde ein solcher Name seine lexikalische Natur mit jedem verfügbaren körperlichen Mittel zum Ausdruck bringen. Der belebte Körper würde nicht einmal Hände benötigen, um seinen Namen aufzuschreiben; wenn man das Epitheton auf die richtige Weise einfügte, würde wohl sogar ein Porzellanpferd dazu in der Lage sein, indem es mit den Hufen scharrte.
Zusammen mit einem von Strattons Geschicklichkeits-Epitheta würde Roths Epitheton einen Automaten tatsächlich zu fast allem befähigen, was zur Reproduktion nötig war. Ein Automat würde den Abdruck eines Körpers anfertigen können, der seinem eigenen genau glich, den eigenen Namen aufschreiben und ihn dem Körper einsetzen, um diesen zu beleben. Da Automaten nicht sprechen konnten, würde er den neuen Automaten allerdings nicht in Bildhauerei ausbilden können. Ein Automat, der sich gänzlich ohne menschliches Zutun reproduzierte, blieb ein Ding der Unmöglichkeit, aber die Kabbalisten wären ohne Zweifel entzückt gewesen, dem Ziel so nahe gekommen zu sein. Es schien ungerecht, dass es so viel leichter war, Automaten zu reproduzieren als Menschen. Es war, als müsste man bei Automaten das Problem der Fortpflanzung nur einmal lösen, während es bei Menschen eine Sisyphusaufgabe war, bei der die Komplexität des benötigten Namens mit jeder weiteren Generation zunahm.
Und plötzlich wurde Stratton klar, dass er gar keinen Namen brauchte, der die körperliche Komplexität verdoppelte, sondern vielmehr einen, der zu lexikalischer Verdoppelung befähigte.
Die Lösung bestand darin, die Eizelle mit dem Autonym zu prägen und dadurch einen Fötus zu erzeugen, der seinen eigenen Namen in sich trug.
Wie anfangs geplant würde es zwei Versionen des Namens geben: einen, der männliche Föten erzeugte, und einen anderen für weibliche. Die auf diese Weise gezeugten Frauen würden normal fruchtbar sein. Die so gezeugten Männer würden ebenfalls zeugungsfähig sein, aber nicht auf die übliche Art: Ihre Spermien würden keine vorgeformten Föten enthalten, sondern stattdessen einen von zwei Namen auf der Oberfläche tragen, Ausdruck der ursprünglich durch die Glasnadeln hervorgebrachten Namen. Wenn ein solches Spermium eine Eizelle erreichte, würde der Name einen neuen Fötus erzeugen. Die Menschen würden sich dann ohne medizinische Eingriffe fortpflanzen können, da sie den Namen der eigenen Spezies in sich trugen.
Er und Dr. Ashbourne waren davon ausgegangen, zur Erschaffung von fortpflanzungsfähigen Tieren müsse man ihnen vorgeformte Föten mitgeben, da dies der Weg war, den die Natur beschritt. Deshalb hatten sie eine andere Möglichkeit übersehen: Wenn man ein Geschöpf durch einen Namen ausdrücken konnte, war die Weitergabe dieses Namens gleichbedeutend mit Fortpflanzung. Statt einer winzigen Entsprechung seiner selbst konnte ein Organismus eine lexikalische Repräsentation enthalten.
Die Menschheit würde sowohl zum Träger des Namens als auch zu dessen Erzeugnis werden. Jede Generation würde sowohl Gefäß als auch Inhalt sein, ein unendliches Echo ihrer selbst.
Stratton malte sich eine Zeit aus, in der die Menschheit fortbestehen würde, solange es ihr Verhalten zuließ; in der ihr Dasein und ihr Aussterben nur von den eigenen Handlungen abhingen und in der sie nicht einfach verschwinden würde, nachdem ihre vorbestimmte Lebensspanne abgelaufen war. Im Laufe der Erdzeitalter würden andere Spezies wie Blumen erblühen und verwelken, aber die Menschen würden weiterleben, solange es ihnen gefiel.
Und es würde auch keine Gruppierung die Fruchtbarkeit einer anderen kontrollieren; zumindest im Bereich der Fortpflanzung würde die Freiheit des Individuums wiederhergestellt werden. Das war nicht die Anwendung, die Roth seinem Epitheton zugedacht hatte, aber der Kabbalist hätte sie sicher zu schätzen gewusst. Bis sich die
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