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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ted Chiang
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wirkliche Macht des Autonyms offenbarte, würde der Name weltweit bereits eine Generation von mehreren Millionen Menschen hervorgebracht haben, und keine Regierung würde ihre Fortpflanzung noch kontrollieren können. Lord Fieldhurst – oder seine Nachfolger – würden außer sich sein, und irgendwann würde das Ganze seinen Tribut fordern, aber damit konnte Stratton leben.
    Er eilte zu seinem Schreibtisch und schlug dort nebeneinander sein Notizbuch und das von Roth auf. Auf einer leeren Seite schrieb er einige Ideen dazu auf, wie man Roths Epitheton in ein menschliches Euonym einfügen könnte. In Gedanken versetzte Stratton bereits die Buchstaben, auf der Suche nach einer Permutation, die den menschlichen Körper ausdrückte und zugleich sich selbst enthielt – eine ontogenetische Chiffre der menschlichen Art.

Die Evolution menschlicher Wissenschaft

Fünfundzwanzig Jahre sind vergangen, seit bei unserer Redaktion das letzte Mal ein Artikel über eine wirklich neue wissenschaftliche Erkenntnis zur Veröffentlichung eingereicht wurde. Daher wird es Zeit, die Frage aufzugreifen, die damals überall diskutiert wurde: Welche Rolle können menschliche Wissenschaftler noch in einem Zeitalter spielen, in dem sich die neuesten Erkenntnisse längst ihrem Verständnis entziehen?
    Gewiss erinnern sich viele Abonnenten noch an Publikationen, deren Autoren als Erste zu den dort beschriebenen Erkenntnissen gelangt waren. Doch seit Metamenschen die wissenschaftliche Forschung zu dominieren begannen, haben sie ihre Erkenntnisse immer häufiger nur via DNT (digitalem Neuraltransfer) zugänglich gemacht; den Fachzeitschriften blieb nicht anderes übrig, als Berichte aus zweiter Hand zu veröffentlichen – Übersetzungen in die menschliche Sprache. Ohne DNT konnten die Menschen weder die bisherigen Erkenntnisse wirklich erfassen, noch die neuen Methoden und Werkzeuge sinnvoll einsetzen, die für weiteren Fortschritt unabdingbar waren. Die Metamenschen hingegen haben DNT weiterentwickelt, und mit der Zeit wurde diese Art der Kommunikation immer wichtiger für sie. Zeitschriften für menschliche Leser dienten nun nur noch dazu, Forschung der Allgemeinheit verständlich zu machen, und auch das gelang nur mit mäßigem Erfolg – angesichts der Übersetzungen neuester Forschungsergebnisse waren selbst die intelligentesten Menschen ratlos.
    Niemand bestreitet, welch ein Segen die metamenschliche Wissenschaft ist. Doch die menschlichen Wissenschaftler haben einen Preis dafür gezahlt, und dazu gehörte unter anderem die Erkenntnis, dass sie wahrscheinlich nie wieder einen eigenständigen Beitrag leisten würden. Einige zogen sich ganz aus der Wissenschaft zurück, und die Verbliebenen gaben die eigene Forschung weitgehend zugunsten reiner Hermeneutik auf: Sie interpretierten die Arbeit der Metamenschen.
    Zuerst ging es in erster Linie um Text-Hermeneutik – schließlich gab es bereits terabyteweise metamenschliche Publikationen, deren Übersetzungen zwar kryptisch, aber vermutlich doch hinreichend genau waren. Diese Texte zu entziffern ähnelt ein wenig der Arbeit traditioneller Paläografen, doch immerhin gibt es dabei auch Fortschritte: Neuere Experimente haben Humphries’ Entschlüsselung jahrzehntealter Artikel über die genetische Grundlage der Gewebeverträglichkeit bestätigt.
    Als Geräte auf den Markt kamen, die auf der Basis metamenschlicher Wissenschaft entwickelt worden waren, entstand die Artefakten-Hermeneutik. Die Wissenschaftler versuchten, die neuen Geräte zu begreifen – nicht um Konkurrenzprodukte zu entwickeln, sondern um die zugrunde liegende Physik zu verstehen. Am häufigsten geschieht das durch kristallographische Strukturaufklärung von Nanotechnik, was uns immer neue Einsichten in die Mechanosynthese erlaubt.
    Die modernste und weitaus abenteuerlichste Forschungsmethode besteht darin, metamenschliche Forschungseinrichtungen aus der Ferne mittels Sensoren abzutasten. Ein jüngeres Beispiel dafür ist der kürzlich unter der Wüste Gobi gebaute Exo-Kollisor, dessen verwirrende Neutrino-Signatur zu allerlei Diskussionen geführt hat. (Der mobile Neutrino-Detektor ist natürlich ein weiteres metamenschliches Artefakt, dessen Funktionsweise unser Verständnis übersteigt.)
    Die Frage ist: Sind das lohnende Aufgaben für einen Wissenschaftler? Einige bezeichnen sie als Zeitverschwendung und vergleichen sie mit dem Versuch eines amerikanischen Ureinwohners, die Bronzeherstellung nachzuvollziehen, nachdem

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