Das War Ich Nicht
mich stattdessen in das Cafe gegenüber. Ich war ja jetzt Rentner. Ich hatte Zeit. Ab jetzt würde ich mit Wohlwollen auf all die kleinen Irritationen des Alltags blicken. So konnte ich gleich für meine Zukunft als Londoner Charity-Größe üben, Wohlwollen, auch für die beiden dicken Mädchen, die sich ein Tiramisu teilten. Tiramisu, morgens um neun und dann ausgerechnet ein halbes? Gott segne diese beiden dicken Mädchen.
Beiläufig sah ich auf den Fernseher, der an der Wand vor mir hing und stand Sekundenbruchteile später stocksteif direkt davor. Jaspers Bild aus der Tribune, wie ich es noch immer in meiner Brieftasche hatte, war direkt vor mir. Bevor ich begriff, warum das Bild dort in den Nachrichten war, verschwand es. Die Schlange der Bankkunden, die ich eben noch gesehen hatte, kam ins Bild, eine Großaufnahme des Schildes von Rutherford & Gold; ich begann, auf die Texteinblendung zu achten, die unter dem Bild entlang fuhr, und sah das Wort pleite. Es gebe kein Geld mehr, sagte ein aufgeregter Kunde, nicht mal mehr einen Kontoauszug. Rutherford & Gold pleite nach Verlust aus Optionsgeschäften, hieß es in der Texteinblendung - der Texteinblendung, in der auch die Nachricht von meinem Tod erscheinen würde. Aktienmärkte weltweit im freien Fall, Dow Jones öffnet 8% schwächer. Notenbankchef Ben Bernanke erklärte, dass es keinen Grund zur Sorge gebe, Reporter fragten, ob eine Finanzkrise drohe, er winkte ab und kündigte marktstabilisierende Maßnahmen an. Dann kam ein übernächtigt aussehender Europäer namens Trichet ins Bild. Wenn hier ein Europäer im Fernsehen war, gab es wirklich ein großes Problem, dachte ich, doch auch er sagte, man habe alles im Griff. Alles im Griff? Ich glaubte, nicht richtig zu hören. Was ist mit mir? Mit meinem Geld? Ich spürte denselben Schwindel wie nach meinem Dauerlauf auf der North Clark Street vor einigen Tagen und musste mich wieder setzen.
Der Finanzvorstand von Rutherford & Gold trat vor die Kameras und erklärte, dass sie Opfer eines Händlers geworden seien, der durch Betrügereien und Computertricks das ganze Kapital der Bank riskiert habe. Alle stünden unter Schock, hätten von nichts gewusst, sagte der Mann. Schnitt. Die Drehtür kam ins Bild, durch die ich, Jasper verfolgend, das Gebäude von Rutherford & Gold betreten hatte. Ein Mann verließ die Bank, die Kamera schoss auf ihn zu, Mikrofone kamen ins Bild, jemand rief ihm Fragen zu, die ich nicht verstand. Der Mann lief schneller, sagte etwas, das klang wie »kein Kommentar«, dann packte er eines der Mikrofone mit seiner riesigen Hand und schob es von sich weg. Es war der Mann mit den Manschetten und dem unbeweglichen Gesicht - nur die protzige Uhr hatte er abgenommen. Mit Mühe und Not schaffte er es in ein wartendes Auto. Auch dort standen auf dem Bürgersteig bereits einige Bankkunden, eine verzweifelte Frau schrie, ihr ganzes Geld sei weg.
Je mehr die Frau klagte, ihr ganzes Gesicht sich in Tränen aufzulösen schien, desto ruhiger wurde ich. Jeder Kunde von Rutherford & Gold hatte über Nacht sein gesamtes Geld verloren. Alles weg. Einfach so. Verrückt.
Ich verließ das Cafe. Schräg gegenüber der Filiale von Rutherford & Gold war eine Citibank. Ich steckte meine Karte in den Geldautomaten, gab den Betrag 300 Dollar ein, dann meine Geheimzahl. Der Automat ließ sich Zeit, piepte, dann warf er meine Karte wieder aus. Auszahlung zurzeit nicht möglich.
Als Nächstes ging ich im Geiste die Menschen durch, die ich in Chicago kannte, Bekannte, Kollegen, entfernte Cousinen. Niemand schuldete mir Geld.
Langsam überkam mich nun doch eine gewisse Ratlosigkeit.
Ich sah in meine Brieftasche. Das, diese paar grün bedruckten Scheine, war alles, was ich noch hatte. Wer auch immer meine Biografie verfassen würde, er musste nun so etwas schreiben wie starb verarmt in ... Ja, wo denn?
Ich ging Richtung Hotel, dachte an den Vorhang, den ich heruntergerissen hatte, kehrte um, ging Richtung Walnut Room, dann blieb ich stehen. Ich hatte in dieser Stadt schon lange nichts mehr getan, was kein Geld gekostet hatte. Ich konnte hier doch nicht arm durch Straßen laufen, mich, von Paparazzi verfolgt, bei irgendwelchen Suppenküchen anstellen.
Ein Besuch beim Verlag, wo sie alle mit Gertrude Prichett zu tun hatten, kam auch nicht in Frage, ebenso wenig eine Flucht zu Andrew an sein College, wo nach zwei Tagen alle wüssten, wer ich war und wie es um mich stand. Eine größere Demütigung gäbe es nicht. Es gab
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