Das War Ich Nicht
U-Bahn-Fenster sah ich auf diese Stadt, die ich so bald nicht wiedersehen würde. Ich kannte Chicago nur mit Geld, erst dem Geld meiner Eltern, dann meinem eigenen. Nun kam diese Stadt mir zum ersten Mal fremd vor. Die Restaurants, Taxis, Geschäfte waren auf einmal keine Möglichkeiten mehr, die mir offenstanden, so wie mir diese ganze Stadt immer offengestanden hatte. Ich sagte es ein paar Mal laut. Weg. Futsch. Kaputt. Was hatte ich hier noch verloren? Ich musste mich irgendwo verstecken, wo mich niemand fand. Bei jemandem, der bereit war, mich bei sich aufzunehmen, obwohl ich kein Geld mehr hatte. Die Urbanski. Trotz unseres Streits im Estana war ich mir sicher, dass sie mich nicht im Stich lassen würde. Ich würde mich entschuldigen, sie würde mir verzeihen, und ich könnte in ihrem schönen Bauernhaus an der Nordsee in Ruhe überlegen, wie es mit meinem Leben als Rentner weitergehen sollte. Das wäre wirklich etwas Neues in der Literaturgeschichte, dass ein Großschriftsteller seine Millionen verliert und von seiner deutschen Übersetzerin irgendwo in der europäischen Pampa das Gnadenbrot bekommt.
Ich bekam einen spottbilligen Last-Minute-Flug nach Deutschland mit einem irischen Billigflieger. Dafür roch das Flugzeug wie eine Sardinenbüchse, und man musste für das Essen zahlen. Zum ersten Mal seit Jahren nahm ich wieder wahr, was Dinge kosteten: vier Dollar für ein Sandwich, drei für einen Kaffee. Ich aß nichts.
Den Frankfurter Flughafen, immerhin einen der größten Europas, hatte ich mir anders vorgestellt. Ich kam in einer Halle an, an deren Decke riesige Aluminiumrohre verliefen, Ansaugstutzen ragten in den Raum, Stahlträger überall, nackter Beton, sodass ich das Gefühl hatte, in einer Montagehalle zu stehen. Es gab eine Aussichtsterrasse mit einem Restaurant, das auf riesigen Bannern mit bunten Fotos für Nudelgerichte warb. Am Schalter von Wadivostok Air stand eine Schlange von Menschen, die riesige Mengen Gepäck mit den Füßen langsam nach vorne schoben. In einer Bierbar saß eine Gruppe von Rentnern, die auf einen um Stunden verspäteten Flug nach Malaga warteten, wie ich annahm, nachdem ich auf den Monitor mit den Abflügen gesehen hatte. Überhaupt schienen hier außer mir nur alte Leute zu sein. Die Herren trugen knitterfreie Westen, die ihre Bäuche unter Kontrolle hielten, und obwohl es drei Uhr nachts war, hatten ihre Gesichter eine so gesunde Farbe, als kämen sie bereits aus dem Urlaub.
Als ich nach draußen gehen wollte, kamen mir in der Tür vier weitere Rentner entgegen, die nach Zigaretten rochen und ziemlich angetrunken waren. Trotz der großen Verspätung scherzten und lachten sie, nahmen mich überhaupt nicht wahr, sodass ich nur mit Mühe an ihnen vorbei aus der Tür kam. Wo war ich hier bloß gelandet? Mit diesen ungehobelten, schlecht gekleideten Alten hatte ich nun wirklich nichts gemeinsam. Außer einer Sache: jede Menge Zeit. Freizeit. Vielleicht konnte ich bei der Urbanski ein Hobby anfangen. Golf spielen. Oder besser: Gartenarbeit. Etwas Kleines, Bescheidenes.
Draußen war es dunkel, ich sah nichts, außer einem Parkhaus, das, genau wie der Flughafen, den Eindruck machte, als sei es in großer Eile mit sehr wenig Geld aufgestellt worden. Gab es ein zweites Frankfurt in der Ukraine?
Oder sollte das wirklich die Stadt der weltgrößten Buchmesse sein? Es gab noch nicht einmal eine nette Martini-Bar. Aber auf meinem Ticket stand es nun mal: Frankfurt. Ich erinnerte mich daran, dass ich ohnehin kein Geld mehr für Martinis hatte, nahm mein Telefon, fand die Visitenkarte der Urbanski in meiner Brieftasche und rief sie an.
JASPER
Rutherford & Gold. Pleite. Dass diese Worte mal zusammengehören würden, wäre mir nie in den Sinn gekommen.
Meike hatte Satellitenfernsehen, zum Glück, wie ich erst dachte. Doch als Tony Brice, der Vorstandsvorsitzende von Rutherford & Gold, über mich sprach, bereute ich es, den Fernseher überhaupt angestellt zu haben. Ich sei total durchgedreht, sagte er. Ich sei ein Betrüger, schlimmer noch: ein Wahnsinniger, ein Verbrecher.
Dass ich mich auf der Bahnfahrt von Bochum nach Tetenstedt hinter der Zeitung versteckt hatte, hatte nichts mit Verfolgungswahn zu tun. Im Gegenteil: Ich wurde nicht nur von den Medien gesucht, sondern auch von der Polizei. Meine Mutter hatte nicht übertrieben, als sie vermutete, dass ich einen guten Anwalt brauchte. Vielleicht konnte der verhindern, dass ich ins Gefängnis kam. Gefängnis. Da hatte ich es
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