Das War Ich Nicht
nur eine Person, die in einer Gegend wohnte, in der mich niemand kannte. Und von der ich mir sicher war, dass sie mir helfen würde. Trotz allem, was passiert war.
Ich stieg in ein Taxi, sah dann noch mal in meine Brieftasche, stieg an der nächsten Ecke wieder aus und nahm die U-Bahn zum Flughafen.
MElKE
Ich dachte, es sei Enno, mein Nachbar, der Bauer. Wer da wirklich vor meinem Haus stand, begriff ich erst nach einigen Sekunden. Ich krallte meine Finger in das Holz der Tür und erwartete, dass Jasper einen Wutausbruch bekam, weil er seine kostbare Freizeit, einige seiner wenigen Urlaubstage, damit verschwendet hatte, hierherzukommen, zu einer Frau, die ihm weisgemacht hatte, sie habe ein schönes Leben. Doch er sagte nichts.
Nachdem ich ihn hereingelassen hatte, sah er sich in meinem Wohnzimmer um. Ich tat dasselbe, versuchte alles mit seinen Augen zu sehen, die Umzugskisten, das lächerlich schicke Sofa, den Wein, den ich aus der Flasche trank.
»Du weißt ja eh, warum ich hier bin, oder?«, sagte er.
Ich schwieg und versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen.
»Ich würde gern mal den neuesten Stand wissen«, sagte er. »Den neuesten Stand wovon?«
»Na, ob es was Neues aus Chicago gibt.« »Ist irgendwas in Chicago los?«, fragt e ich.
»Ich dachte, das könntest du mir sagen?« »Ich habe nichts mitbekommen.«
Die ganze Zeit schon hatte er angespannt ausgesehen, immer wieder die Zähne zusammengebissen, was ich daran sah, dass seine Kaumuskeln sich bewegten, so sehr, dass die Locken über seinen Schläfen auf- und abwippten. Nun lief er im Wohnzimmer herum, vom Sofa zum Kachelofen, zurück zum Sofa, dann in die Küche.
»Ich muss sofort ins Internet.« Da war er also wieder. Jasper, der arrogante Banker. Wahrscheinlich musste er irgendwelc he >Marktdaten checken< .
»Ich bin hier noch nicht online«, sagte ich.
»Ich dachte, du arbeitest hier?«
»Ja. Ohne Internet.«
»Hast du keinen Fernseher?«
»Im Schlafzimmer«, sagte ich, da lief er schon hinaus. Als ich ihm gefolgt war, hatte er bereits die Fernbedienung in der Hand und ihn angeschaltet.
»Was suchst du eigentlich?«, fragte ich und setzte mich auf das Bett, das mein Vorbesitzer hier zurückgelassen hatte. »Nachrichten. Über mich. Sie haben mich erwischt. Ich habe Geld verloren. Deswegen bin ich doch geflohen.«
Ich schmunzelte. Da verlor er in Chicago ein paar Millionen und dachte, das sei hier in den Nachrichten. Für wie wichtig hielt Jasper sich eigentlich? Als ob dieser Finanzkram hier jemanden interessieren würde, auf NDR 3 oder RTL.
»Übertreibst du da nicht etwas?«, fragte ich.
»Vor dem Haus meiner Mutter stehen Kamerateams«, sagte er und hatte bereits ntv gefunden. Das Erste, was wir sahen, war das unscharfe Foto eines Bier trinkenden jungen Mannes mit wirren Locken, das diese ungestylte Privatheit hatte, mit der im Fernsehen nur Verbrecher oder Mordopfer dargestellt wurden; Menschen, die durch Ereignisse in die Öffentlichkeit gekommen waren, mit denen zum Zeitpunkt der Aufnahme niemand gerechnet hatte.
Dazu sprach eine Frauenstimme von »erdrutschartigen Kursverlusten an den Aktienmärkten, die durch die Insolvenz der nordamerikanischen Privatbank Rutherford & Gold ausgelöst wurden, die offensichtlich Opfer unerlaubter Spekulationen eines eigenmächtig handelnden Traders geworden ist«, und »dem deutschen Jasper Lüdemann, nach dem die amerikanische Bundespolizei FBI bisher ohne Erfolg fahndet«. Dann setzte sich dieser Trader neben mich auf das Bett, zog die Beine an und starrte auf den Fernseher.
HENRY
Menü. Mitteilung verfassen. An: Kontakt auswählen: Elton J. 001-44-795393339
Lieber Elton,
London fällt aus. Bin anscheinend verarmt. OMG! Gehe trotzdem in Rente. Dorthin, wo mich niemand finden kann. xoxoxo Henry
Auf meinem iPhone ein weißer Balken, unter dem das Wort Senden stand, und der von links nach rechts langsam über den Bildschirm wuchs, immer schneller, und dann verschwand. Diese SMS, 21 Worte, machte es mir erst richtig klar: Ich würde nie nach London fahren. Was tat ich jetzt? Oder besser gefragt: Was ließ ich bleiben?
Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich hatte ja noch meine Wohnung, die ich verkaufen konnte - verhungern würde ich natürlich nicht. Aber darum ging es nicht. Meine Millionen, die mich immer dran erinnerten, wie viele Leute meine Romane gekauft hatten, waren weg. Schreiben würde ich auch nichts mehr. Ich hatte niemandem mehr etwas zu bieten.
Durch die zerkratzten
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