Das War Ich Nicht
einfach so gedacht. Ich sah mich in Meikes Schlafzimmer um. Groß war es nicht. Ein Bett, ein Stuhl. Gefängnis.
Auf ARD kam eine Sondersendung. Mit Blick auf das Parkett der Frankfurter Börse, die seit ihrem Umbau aussah wie die Kulisse zu einer Spielshow. Eine Frau sprach von massivem Abgabedruck. Die Börsen waren weltweit eingebrochen. Seit der Pleite von Rutherford & Gold war das Misstrauen überall. Jeder Journalist befasste sich mit der Bonität amerikanischer Hauskäufer. Wer wäre in der Lage, seinen Kredit noch zu tilgen, wenn die Immobilienpreise jetzt fielen? Was waren die Häuser, die diesen Krediten zugrunde lagen, eigentlich wirklich wert? Wenn eine Bank einfach so Pleite machen konnte, stand dieser ganze Aufschwung auf tönernen Füßen. Folgten der Zahlungsunfähigkeit von Rutherford & Gold eine Bankenkrise, Finanzkrise und schließlich eine Wirtschaftskrise?
»Dem Händler Jasper Lüdemann ist es offensichtlich gelungen, durch Hackerangriffe und geschickte Manipulationen alle Sicherheitssysteme zu umgehen und durch unerlaubte Spekulationen einen Verlust von sechs Milliarden Dollar zu verursachen, der zur Zahlungsunfähigkeit von Rutherford & Gold geführt hat«, sagte die blonde Frau.
So ein Blödsinn! Selbst wenn man alle meine Positionen zusammenrechnete, so viel konnte es nicht sein. Und Hackerangriffe, ich wusste nicht mal, wie so was geht.
Ich überlegte, was im Händlersaal passiert sein konnte. Nach meiner Flucht hatte Alex sich den Account von Graham Santos sicher ganz genau angesehen. Und festgestellt, dass es meine Gewinne nicht gab. Nur die Verluste in dreistelliger Millionenhöhe. Für diesen Fall gab es klare Regeln. Unautorisierte Positionen mussten sofort glattgestellt werden. Die Risiken in den Büchern der Bank so schnell wie möglich mindern. Doch in diesem Fall war das genau falsch. Der Kurs von HomeStar hatte ja schon nachgegeben, bevor ich abgehauen war. Niemand hatte mehr geglaubt, dass ein Investor die Firma aufkaufte, die Kursfantasie war raus. Nach meiner Flucht war HomeStar offensichtlich weiter gefallen, sodass Alex nicht nur Verluste entdeckt hatte, sondern Verluste, die sich von Minute zu Minute erhöhten. Umso schneller mussten er, Suzanne, Nathan und die anderen versucht haben, meine HomeStar-Positionen aufzulösen. Schmissen alles auf den Markt, so schnell sie konnten.
Was dann passierte, musste abgelaufen sein wie in einem Lehrbuch über behavioral finance:
Die ohnehin schon verunsicherten Marktteilnehmer merkten, dass Rutherford & Gold im großen Stil verkaufte. Wurden nervös. Die, die eh schon damit gerechnet hatten, dass die Aufwärtsbewegung am Ende war, bekamen Angst vor einem Kurssturz und verkauften als Erste. Andere Marktteilnehmer, die noch relativ optimistisch gewesen waren, taten es ihnen nach. Daraufhin fühlten sich die, die als Erste Angst gehabt hatten, in ihrem Pessimismus bestätigt und verkauften weiter. Herdentrieb. Schnell war der Punkt erreicht, an dem die Angst vor einer massiven Kurskorrektur zur Panik wurde und auch die mitriss, die daran glaubten, dass es bald wieder aufwärts ging. So musste es gewesen sein, denn eine Bank von der Größe von Rutherford & Gold konnte allein keinen Crash auslösen. Die Angst war schuld, nicht ich!
Auf ntv hatten sie inzwischen weitere Fotos von mir aufgetrieben. Ich an meinem ersten Schultag. Mit Zahnlücke und einer Schultüte, die fast genauso groß war wie ich. Fotos, die während meiner Jugendzeit im Schachclub aufgenommen worden waren. Unsere Abi-Reise nach Rom. Auch unser rotes Schwedenhaus zeigten sie. Dazu erzählte jemand mein Leben, sagte Sprockhövel, Bochum, Chicago.
Unsere Nachbarin Frau Klostermann sagte in die Kamera, ich sei immer ein guter Junge gewesen.
Ich wischte mir übers Gesicht. Die Wangen. Starrte weiter auf den Fernseher, obwohl eine Werbepause war, wischte mir wieder über die Wangen. Sah Meike an, die anscheinend sehr konzentriert eine Werbung für Waschmittel verfolgte.
Wenig später erschien auf dem Fernseher ein Computerbildschirm. Die Kamera filmte die weiß-blaue Startseite von Facebook. Nur eine Stunde nach der Pleite von Rutherford & Gold hatte sich eine Facebook-Gruppe gebildet: Jasper-Lüdemann-Fans. Bereits über dreitausend Leute seien Mitglied geworden, erzählte eine Reporterin. Die Leute beglückwünschten mich in ihren Postings. Dankten mir, dass ich den kleinen Leuten einen Weg gezeigt hatte, wie man es dem Großkapital mal so richtig zeigen konnte,
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