Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
klein wurde. Was auch immer Staatsanwaltschaft oder Verteidigung sagten: Sie empfand jedes Wort wie einen Messerstich.
Sie brachte es nicht fertig, ihren Vater auch nur ein einziges Mal anzusehen. Erst als sie sich wieder hinter die Anklagebank setzte, wagte sie es, einen Blick in Richtung seiner gebeugtenGestalt zu werfen, und was sie sah, erfüllte sie mit Traurigkeit. Er war seit ihrer letzten Begegnung noch dünner geworden, und der Armani-Anzug, in dem er sich stets am liebsten präsentierte, wirkte, als sei er drei Nummern zu groß.
Vor dem Gerichtsgebäude wimmelte es von Journalisten, Fotografen und Kameraleuten. Alle schrien sie Doggie ihre Fragen zu: Ob die Idee, den Wahlabend im Hotel ihres Vaters zu verbringen, von ihr stamme? Ob sie im Falle einer Verurteilung ihres Vaters weiter im Weißen Haus arbeiten werde? Was der Präsident zu ihr gesagt habe, als sein Kind gestorben war? Sie rempelten und schubsten und fassten Doggie sogar an, doch die Ordnungskräfte schritten nicht ein. Als sie die unterste Stufe der Treppe erreicht hatte und sich eine weitere Horde auf sie stürzte, spürte sie, wie jemand sie am Arm packte. Sie wollte sich losreißen und fuhr wütend herum.
»Lassen Sie mich los, sonst …!«, schrie sie und blickte in Sheriff T. Perkins’ müdes Gesicht. Augenblicklich verspürte sie eine unglaubliche Erleichterung.
T. Perkins war in diesen Dingen ein äußerst erfahrener Mann. Binnen weniger Sekunden hatte er sie an Blitzlichtern und Kameraobjektiven vorbeigeleitet und half ihr in seinen am Bordstein wartenden, zerkratzten Chrysler.
»Dachte ich es mir doch, dass es keine schlechte Idee wäre, hier unten auf dich zu warten, Doggie!«, sagte er und trat aufs Gaspedal. Erst als sie den Scott Circle erreichten, reduzierte er das Tempo.
»Ich habe mir ein paar Tage frei genommen und wohne in dem Hotel hinterm Zoo. Wenn du möchtest, dass ich dich begleite, bis du mit deinen Aussagen fertig bist, tu ich das gerne.«
Die Abende in ihrer Wohnung hätte Doggie kaum ertragen, wenn Sheriff T. Perkins sich nicht um sie gekümmert hätte. Mit seiner sanften Stimme redete er beruhigend auf sie einund ließ sie sich selbst und ihm gegenüber eingestehen, wie sehr die ganze Geschichte sie mitnahm. Er nahm sie in den Arm und hörte ihr zu, warf seinen Lieblingsdartpfeil, den er stets in seiner Brusttasche trug, immer wieder auf den schwarzen Fleck, den er auf einen der Umzugskartons gemalt hatte. Sie redeten und redeten, und es war völlig egal, worüber – Doggie tat es einfach gut.
T. Perkins war ein alter Hase. Er kannte viele Männer diesseits und jenseits der Gitterstäbe, auch in Washington, D. C. Er kannte sogar Oberstaatsanwalt Deloitte, und zwar ziemlich gut. Sie waren gleichaltrig und beide in Floyd County, Virginia, aufgewachsen. Beide hatten Vorfahren, die 1905 bei einer Minenexplosion ums Leben gekommen waren, und beide hatten eine Zeit lang in Roanoke in einer Akkordeonband gespielt. Dann hatten sich ihre Wege getrennt. Mortimer Deloitte ging nach Harvard, um Jura zu studieren, T. Perkins ans Roanoke College. Damals jobbte Perkins als Betreuer im Christiansburg Senior Center.
Dann kam der Vietnamkrieg. T. Perkins diente und schloss – anders als Deloitte – sein Jurastudium nie ab. Nach vierzehn Monaten in der grünen Hölle kehrte er in seine Heimat zurück, fest entschlossen, nie wieder einen Befehl auszuführen, der ihm gegen den Strich ging.
Er arbeitete dann zwei Jahre in der Gerichtskanzlei in Petersburg, weitere zwei Jahre als Vizesheriff in Montgomery County, und nun war er schon seit dreißig Jahren erst Vizesheriff, dann Sheriff von Highland County, dem kleinsten und sehr ländlich geprägten Bezirk Virginias. Hier drehten sich die meisten Einsätze darum, zwischen Landwirten zu vermitteln, die ihre alten Grenzpfähle nicht wiederfinden konnten. Mortimer Deloitte und er hätten sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen, erzählte er Doggie, aber er sei zufrieden mit seinem Leben. Er wirkte, als sei er überzeugt, bessere Entscheidungen als Deloitte getroffen zu haben. Er hatte sich mitkeiner Silbe negativ über Deloitte und dessen Amtsführung geäußert, aber auch kein einziges positives Wort darüber verloren. So war Perkins nun mal. Wenn er nichts Gutes zu sagen hatte, schwieg er.
Jeden Morgen holte er Doggie ab, begleitete sie zum Gericht, saß im Gerichtssaal neben ihr und brachte sie um dreizehn Uhr zum Westflügel des Weißen Hauses. Dort holte er sie um neunzehn
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