Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
worden und kamen jetzt mit Geld und einem neuen Job in der Tasche nach Hause: Sie sollten ein Auge auf die Jugendlichen des Viertels haben. Die Liberalen hatten Zweifel an dieser Maßnahme und ließen sie umfassend analysieren, die Republikaner und inzwischen auch ein Großteil der Demokraten empörten sich: Man könne doch nicht den Bock zum Gärtner machen! Aber Rosalie sah das anders. Die Jungs aus dem Knast wollten ganz bestimmt nicht wieder hinter Gitter. Sie hatten eine sinnvolle Aufgabe, und beaufsichtigt wurden sie von ehemaligen Vollzugsbeamten. Sie hatten das gleiche Ziel, sprachen fast die gleiche Sprache und bekamen fast das gleiche Geld. Im Prinzip sollten sie die Mitglieder der Latinobanden und die schwarzen Bruderschaften dazu bewegen, ihre Waffen abzuliefern. Sie sollten sie aus den dunklen Seitengassen holen und zum Entgiften und Entfernen der Bandentattoos ins Krankenhaus schicken. Den uneinsichtigen Latinos wurde unmissverständlich klar gemacht, dass sie bei mangelnder Kooperation ruckzuck in die Herkunftsländer ihrer Familien zurückgeschickt würden – auch dann, wenn sie selbst schon in den USA geboren waren. Das half. Wer wollte sich schon freiwillig umbringen lassen?
Jeder einzelne Exhäftling sollte fünf Jungs aus verschiedenen Straßenbanden beaufsichtigen. So brachte er die verfeindeten Jugendlichen zusammen. Er verdrosch sie, wenn sieSchwierigkeiten machten. Er nahm sie irgendwohin mit, wo sie gemeinsam lachen konnten. Sie sahen sich die Bügelfalten der Weißen in der Wall Street an und bekamen kostenlose Kinokarten für Komödien. Sobald die Jungs zurück in ihrer Bandenumgebung waren, zogen sie natürlich wieder mächtig übereinander her, aber auf einmal hatte das nicht mehr dieselben Konsequenzen wie früher. Denn auch ihnen fiel es schwer, jemanden zu vermöbeln, mit dem sie sich gerade noch vor Lachen gebogen hatten. Natürlich kam das weiterhin vor, aber immer seltener. Die Wohnblöcke schienen auf wundersame Weise enger zusammenzurücken, die Straßen einander die Hände zu reichen.
Rosalie Lee fühlte sich in Throgs Neck jedenfalls sicherer als im Schatten des Rockefeller Center oder sonst irgendwo im Stadtzentrum, dem Revier des Dachmörders.
Aber dann kam eines Abends ihr mittlerer Sohn Frank mit riesigen Pupillen nach Hause. Sein Blick war wie verschleiert von Crack und Koks, er war aggressiv, rachsüchtig und hatte eine üble Schussverletzung an der Wade.
Das änderte alles. In null Komma nichts hatten James, Frank und Dennis alles, was sie noch an Munition in der Wohnung versteckt hatten, zusammengetragen. Woher das Zeug kam, war Rosalie schleierhaft, sie hatte doch alles gründlich abgesucht. Die drei luden ihre Waffen und zogen los, um Rache zu üben. Rosalie erfuhr nie, was in jener Nacht passierte, aber es hieß, in der Bronx seien drei schwarze Jungs ermordet worden.
Rosalie hatte in dieser Nacht kein Auge zugemacht. Ein ums andere Mal kniete sie neben ihrem Bett nieder. »Lieber Gott!«, betete sie. »Lieber Gott, bitte, mach, dass meinen Jungs nichts passiert!«
Sie wurde fast wahnsinnig vor Angst, und als ihre Söhne zurückgekommen waren und schliefen, schnappte sie sich ihre Waffen. Sie schleuderte sie so weit hinaus in die Eastchester Bay, wie sie nur konnte. Zwei Tage lang hörte sie Polizeifunk,und weil keine Rede von Verdächtigen war, beschloss sie, ihre Gedanken und Befürchtungen für sich zu behalten.
Seit Rosalie vor achtundvierzig Jahren drei Straßen weiter nördlich geboren worden war, hatte sie New York nur zwei Mal verlassen. Einmal, als sie ihre Schwester in Virginia besuchte und bei einer Quizshow mitmachte, und einmal, als sie die dabei gewonnene Reise nach China antrat. Diese Reisen waren ein Geschenk des Himmels gewesen. Und doch hatte sie ihrem Schöpfer beide Male dafür gedankt, dass sie in die Bronx mit ihren dunklen Straßenschluchten zwischen den heruntergekommenen Wohnblöcken zurückkehren durfte. Das war ihre Welt, hier war sie zu Hause. Jedenfalls bis zu jener Nacht, in der sich ihre Jungs an Gott weiß wem rächten.
Wieder bekreuzigte sie sich. Hatten ihre Söhne Menschenleben auf dem Gewissen? Vielleicht waren sie auf dem Weg in den Abgrund, wie so viele, die an diesem gottverlassenen Ort aufwuchsen. Falls sie schuldig waren und aufgegriffen wurden, sah es schlecht aus. Bezüglich alter Verbrechen ließ Jansens Programm Gnade walten, aber nicht bei neuen. Nicht, wenn es um Mord ging. Ein Kleinkrimineller kam mit einem
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