Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
überall ausgezeichnete Verstecke.
Abend für Abend betete Rosalie, dass man den Mörder finden möge, und hoffte, dass es kein Schwarzer war. »Lass es einen Puerto Ricaner sein!«, betete sie und wünschte, ihre drei Söhne würden bald nach Hause kommen. Sie hatte Angst vor dem Dachmörder, und sie hatte Angst davor, was ihre Jungs in der gegenwärtigen Situation anstellen könnten.
New York war nicht die einzige Stadt, in der es brodelte. In Chicago hatten die Menschen gegen die Veränderungen im Land demonstrieren wollen und waren von Wasserwerfern zurückgedrängt worden. Nachts gingen die Nationalgarden mit Gummigeschossen gegen alle vor, die sich auf der Straße versammelten. In allen fünfzig Bundesstaaten wurden Straßen gesperrt, Züge und Flugzeuge penibel kontrolliert, der Busverkehr wurde zeitweise eingestellt.
Endgültig zugespitzt hatte sich die Lage vor zehn Tagen, als Moonie Quale die Anführer der aggressivsten paramilitärischen Gruppen des Landes versammelte und seine Propaganda und seine Hasstiraden über die Teile der Medien zu verbreiten begann, die seine Ziele bereitwillig unterstützten. Seither schienen aus allen Winkeln des Landes uniformierte Kerle hervorzukriechen, die ihre Solidarität mit den Bombenattentätern von Madison bekundeten und der Regierung den Krieg erklärten. Man wolle auf die ewige Bevormundung aus Washington und insbesondere der Jansen-Regierung antworten, hieß es. Bereits am selben Abend wurden die ersten Beamten und Kongressmitglieder ermordet. In der Nacht kam es zu weiteren Bombenattentaten mit Toten und Schwerverletzten. Am nächsten Morgen wimmelte es auf den Straßen von Uniformierten. Polizei und Streitkräfte waren in höchster Alarmbereitschaft. Im Laufe des Tages explodierten weitere Bomben.
Rosalie hatte von ihrem gemütlichen grünen Sessel aus verfolgt, wie Präsident Jansen mit finsterer Miene und vor Zorn bebender Stimme in einer Sondersendung den Ausnahmezustand verhängte. Von da an ging alles rasend schnell. Innerhalbvon vierundzwanzig Stunden war der Kongress ausgeschaltet, und der Präsident verabschiedete eine ganze Reihe von Notstandsgesetzen und Dekreten. Unter Hinweis auf Executive Order 10995 wurden noch am selben Abend die Hälfte aller Zeitungen und der Betrieb einer Reihe von Fernsehsendern verboten. Da mochten der Journalistenverband und sämtliche politischen Kräfte des Landes sich entrüsten, so viel sie wollten. Und das war nur einer von vielen Einschnitten.
Seither war das Leben für alle schwerer geworden, nicht zuletzt in New York.
In einem Radius von zweihundert Metern lebten Rosalie und ihre drei kleinkriminellen Söhne mit fünftausend anderen Menschen, die mit einer scharfen Klinge oder einer Pistole in der Hosentasche selbst für ihr eigenes Wohl sorgten. Frieden und Ruhe waren hier ohnehin Illusionen, es galt, zu leben und zu überleben, egal wie.
Rosalie hatte ihre Söhne James, Frank und Dennis im Abstand von einem Jahr bekommen. Die drei waren sich im Grunde sehr ähnlich: kräftige, ansehnliche Männer, schlagfertig und aufgeweckt, aber auch wenig zimperlich, wenn sie sich herausgefordert fühlten. Rosalie hatte sie im christlichen Geist erzogen, dass man die andere Wange hinhalten und seinen Nächsten lieben und ehren solle. Aber das hatte wenig gefruchtet. Bisher waren sie noch nie im Gefängnis gelandet, aber das war wohl nur eine Frage der Zeit. Wenn sie überhaupt so lange überlebten. Rosalie wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Einige ihrer Freundinnen hatten bereits Söhne verloren – in diesem Viertel wurden Menschenleben so leicht ausgelöscht. Rosalie liebte ihre Jungs trotz allem. Sie konnte sie vor sich sehen, wie sie ihr Leben in die Hand nahmen, aus dem Ghetto herauskamen und ihr selbst im Alter eine Stütze waren. Das war ihr sehnlichster Wunsch, und darum verfluchte sie im Gegensatz zu ihren Söhnen und so vielen anderen Jansens neue Gesetze nicht. Sie sah in ihnendie Möglichkeit, eines Tages durch die Straßen spazieren zu können – ohne Angst, ohne Müllberge, ohne Menschen am Rande des Abgrunds.
Rosalie wünschte sich so sehr, dass ihre Söhne auf sie hörten. Dass sie nicht kriminell würden, solange dieses Law-and-Order-Programm alles bestimmte. Dass sie nicht mit scharfen Waffen aufgegriffen würden. Dass sie nicht leichtsinnig ihr Leben aufs Spiel setzen würden.
Die Umsetzung des Washington-Dekrets hatte alles von Grund auf verändert. Unzählige Häftlinge waren entlassen
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