Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
zur Folge hatte, dass die Menschen sich fügten und einander sogar gegenseitig anzeigten.
Mit jedem Tag entwickelten sich die neuen Zustände wie in einer Kettenreaktion fort. Schulkinder schwänzten nicht mehr, sondern kamen nun jeden Tag pünktlich zum Unterricht, weil es nichts anderes zu tun gab und weil das Leben auf der Straße immer unangenehmer wurde. Überall waren die entlassenen Häftlinge in ihren giftgrünen Overalls zu sehen, wie sie die Jungen vor den Gefahren der Straße warnten. Schon das Ausspucken eines Kaugummis auf den Bürgersteig konnte einen üblen Schlag in den Nacken zur Folge haben. Auf einmal wurde überall hart durchgegriffen, und die Jugendlichen, die bislang ein Leben auf der Straße gelebt hatten, dessen Regeln sie kannten, mussten sich an die neuen Zeiten gewöhnen, in denen nichts mehr sicher war und eine ganz neue Angst zum ständigen Begleiter der Menschen wurde.
Doggie wusste selbst kaum noch, was gut und was schlecht war. Ihre Aufgaben im Büro entfernten sich immer weiter vom Normalen. In den letzten Tagen hatte sie sich nicht mehr mit den üblichen gründlichen Untersuchungen und Analysen beschäftigen können, die in die Zukunft wiesen. Stattdessen musste sie Anfragen aus sämtlichen Sekretariaten bearbeiten, und zwar in der Regel ziemlich oberflächlich, damit ihr Schreibtisch nach einem Sechzehn-Stunden-Arbeitstag am Abend leer und aufgeräumt war. Schaffte sie das nicht, mussten andere die Konsequenzen tragen. Hilfe und Unterstützung waren kaum zu bekommen, einige von ihnen brachen einfach zusammen.
Wesley war schon in der Woche zuvor ein paar Mal in Doggies Büro aufgetaucht. Auch an ihm ging die Situation nichtspurlos vorüber, wie Doggie an seinem flackernden Blick und seinem matten Lächeln sah. Er war zwar wie immer tadellos gekleidet, wirkte aber, als sei er kurz davor, aufzugeben.
Sie hing gerade ziemlich finsteren Gedanken nach, als er hereinkam und die Tür hinter sich schloss. Der Besuch bei ihrem Vater am Tag zuvor hatte Doggie sehr mitgenommen. Schnell kniff sie sich in die Wangen und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Wesley sollte nicht sehen, wie es ihr ging. Sie konnte kaum davon ausgehen, dass der Pressesprecher des Präsidenten sie dabei unterstützen würde, dem verurteilten Mörder der Präsidentengattin zur Freiheit zu verhelfen.
Schwerfällig ließ Wesley sich auf den Stuhl sinken. Erst starrte er eine Weile Löcher in die Luft, dann sah er Doggie mit einem Ausdruck an, als hätte er die Kollegenbrille abgenommen. »Komm, Doggie, wir hauen ab und setzen ein paar dicke Kinder in die Welt, die den lieben langen Tag im Bungo-Kanal baden. Was meinst du?« Er lächelte, schüttelte den Kopf und schien ganz weit weg zu sein.
Sie schwieg. Nichts hätte sie lieber getan, als ähnliche Luftschlösser zu bauen, aber dieser Zug war abgefahren. Sie trug das Kainsmal auf der Stirn und war in der Hierarchie ganz unten gelandet. Der Moment, in dem Wesley eine ernsthafte Beziehung mit ihr hätte anfangen können, war unwiderruflich verstrichen. Und sollte er entgegen aller Vernunft doch darüber nachdenken, würde er niemals irgendwohin abhauen können – schließlich ließen seine Leibwächter ihn keine Sekunde aus den Augen. Genau genommen konnte auch Doggie nicht weg. Nicht, weil ihr die Möglichkeiten fehlten. Man würde ihr seitens des Weißen Hauses sicher keine Steine in den Weg legen, und sie könnte sich als Erbin von Bud Curtis’ prall gefüllten Bankkonten und gigantischem Hotelimperium jederzeit in jeden beliebigen Winkel der Welt zurückziehen. Doch so, wie sie gestrickt war, musste sie hier einfach weitermachen.
Unvermittelt stand Wesley auf, nahm erst sein Namensschild ab, dann ihres und legte sie zusammen mit dem Telefonhörer auf ein Rundschreiben. Er benutzte das Papier, um die drei Teile einzuwickeln, legte alles in die nächste Schreibtischschublade, die die Kabellänge zuließ, schloss sie und blockierte schließlich mit einem Stuhl die Tür. Dann ging er vor Doggie in die Hocke. »Doggie? Gibst du mir bitte deine Hand?«
Skeptisch sah sie ihn an. »Was machst du da, Wesley? Was soll das?« Sie wollte lachen, aber es gelang ihr nicht. »Wieso legst du mein Telefon in die Schublade?«
»Weil ich nicht will, dass irgendjemand außer dir und mir hört, was ich jetzt sage.«
Sie runzelte die Stirn. Ihr Büro wurde abgehört? Der ID-Chip an ihrem Namensschild war eine Wanze? War es wirklich so weit gekommen? Ging man etwa davon aus,
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