Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
Tischdecke, zog die breite Schublade auf und holte ein Blatt Papier heraus. Am Tag zuvor hatte er darauf eine Tabelle gezeichnet: eine Spalte für dramatische Zwischenfälle in der Nähe des Präsidenten, eine weitere für die nachfolgenden Maßnahmen. Studierte man nur die letzte Spalte, sah man ein Land, das diverse Reformen in den Bereichen Soziales und Justiz in Angriff nahm. Aber John hatte im Laufe der Jahre viele Konflikte in allen Teilen der Welt beobachtet. Alles, was sich derzeit in den USA abspielte, deutete auf eine Entwicklung zum Polizeistaat hin. Menschen verschwanden. Die Meinungsfreiheit wurde immer weiter eingeschränkt, Staatsbedienstete wurden ihrer Ämter enthoben, Arbeitslose zur Zwangsarbeit verpflichtet. Militär und Sondereinheiten dominierten das Straßenbild.
Pinochets Chile war ein Gesellenstück der USA gewesen – jetzt wiederholte man alles im eigenen Land. Die Verfassung wurde systematisch unterlaufen, jeder Widerstand gebrochen.Täglich fanden Hinrichtungen statt, der Machtapparat übte totale Kontrolle mit Hilfe seiner Truppen aus. Man sprach davon, die Grenzen zu schließen und sich vom Rest der Welt abzuschotten – als sei das nicht längst geschehen. Die größte Lüge der diktatorischen Machthaber aber war immer schon ihr Geschwafel gewesen, um wie viel besser alles hinterher sein würde. Wenn nicht gleich, dann bald.
John sah durchaus auch positive Effekte, das war nicht schwer. In Großstädten wie Detroit, Los Angeles und Chicago hatte man damit begonnen, Gebäude für unbewohnbar zu erklären und abzureißen. Die Vorstädte öffneten sich, die Räuberhöhlen der Kriminellen verschwanden. Schier endlose Kolonnen von Lastwagen transportierten den Bauschutt ab, und so gut wie jeder hatte eine Arbeit. In seiner eigenen kleinen Oase hier in Georgetown wurde jede einzelne Straße förmlich gestaubsaugt. Auf den Landstraßen in Richtung der Great Falls waren Arbeitslose beiderlei Geschlechts dazu abkommandiert, selbst den kleinsten Fitzel Plastikmüll aufzusammeln. Vordergründig schienen die Dinge in Ordnung zu kommen, aber das Land war dabei, unterzugehen.
John starrte auf die beiden Spalten, sah, wie Ursache und Wirkung verschmolzen. Wann immer in der ersten Spalte ein gewaltsamer Zwischenfall verzeichnet war, zeigte sich spätestens am nächsten Tag in der zweiten Spalte die Konsequenz. Hätte Jansen auch ohne die Unterstützung des Justizministers Lovell eine Kabinettsmehrheit für sein Programm »Eine sichere Zukunft« bekommen? Und hätte Lovell das Programm ohne den Überfall auf Tochter und Mutter überhaupt unterstützt? John hegte starke Zweifel. Und ohne das Attentat auf Lovell und den Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, hätte man das Kongressgebäude einfach schließen und den parlamentarischen Prozess einfach unterbrechen können? Hätte man ohne die immer häufigeren Drohungen gegen öffentliche Einrichtungen direkt nach dem Bombenattentat von Wisconsin, ohnedie Morde an Beamten und zwei Kongressmitgliedern den Ausnahmezustand ausrufen können?
Je länger er seine Übersicht betrachtete, desto wahrscheinlicher erschienen ihm die Zusammenhänge. Selbst vermeintlich unbedeutende Kleinigkeiten auf seinem Blatt Papier hatten etwas zu sagen. Die Angst vor dem Dachmörder in New York und der fatale Amoklauf an einer Schule bei Washington hatten den schwelenden Streit über Waffenverbote aufflammen lassen und zu neuen Auslegungen des zweiten Verfassungszusatzes geführt. Im Grunde passierte jeden Tag irgendetwas, das enorme Konsequenzen nach sich zog, und diese Konsequenzen wiesen alle in eine Richtung: Es schien Präsident Jansens Ziel zu sein, totale Kontrolle über die Gesellschaft zu erlangen, und dieses Ziel rückte täglich näher.
John leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich noch einmal ein. Wozu sollte er noch darauf achten, nüchtern zu bleiben? Das konnte ihm doch egal sein, er konnte ohnehin nichts mehr tun. Er könnte direkt einpacken, sobald er seine Überlegungen laut aussprach. Dass nämlich Jansen und seine Genossen hinter all den Morden, Übergriffen und Bombendrohungen standen, ja sogar hinter der Vergewaltigung einer alten Frau und eines jungen Mädchens. Damit konnte er sich gleich sein eigenes Grab schaufeln. Laut aussprechen? Dazu hatte er doch überhaupt keine Möglichkeit. Bei der NBC jedenfalls nicht.
Zufrieden spürte er, wie der Whisky seine Wirkung tat. Seine Wangen waren heiß. Oder kam das von der Krankheit?
Nachdenklich
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