Das Washington-Dekret: Thriller (German Edition)
Martini zu verdrängen, musste man eine Menge trinken, aber Danny hatte schon immer Stil gehabt. Er dröhnte sich nicht wie John mit einer Flasche Whisky zu.
John heftete den Blick auf Dannys Brust. Sie hob und senkte sich langsam. »Danke, Liebster!«, flüsterte er. »Danke, dass du noch bei mir bist.«
Er machte den Fernseher leiser, in dem der Abspann eines alten Marx-Brothers-Films lief, und schenkte sich ein Glas Whisky ein. Der Tag war dramatisch gewesen. Alle möglichen kirchlichen Organisationen und Sekten hatten sich heute zusammengetan und mit ihren Demonstrationen die Stadt lahmgelegt. Wo man auch hinsah, waren Repräsentanten verschiedenster Glaubensrichtungen mit ihren Kappen, Kapuzen, Kutten und Kaftanen Schilder schwingend durch die Straßen gezogen. Die Polizei hatte den Rückzug angetreten – wer wollte schon gegen Imame, Rabbiner und Priester mit Tränengas vorgehen? Jetzt waren die Lichter im größten Teil der Stadt erloschen, doch die Beleidigungen und Schmährufe im Namen Gottes hallten nach.
Auch in anderen Teilen der Gesellschaft war Bewegung auszumachen. Einflussreiche Interessenorganisationen schlössen sich zusammen, hieß es. Transportverband und Industrie gingen sämtliche Optionen durch, nichts schien mehr ausgeschlossen. Leise wurden Wörter wie »Generalstreik«, »Aufstand« und »Machtübernahme« geflüstert, aber der Machtapparat hatte gute Ohren. Immer wieder verschwanden Menschen über Nacht aus ihren Wohnungen.
Zwei von Johns besten Kollegen waren an diesem Tag nichtin der Redaktion erschienen. Bei einem war John überzeugt, dass er untergetaucht war, aber um die andere machte er sich Sorgen. Miss B., wie sie von allen genannt wurde, hatte mehrfach aus Krisengebieten wie Somalia und Afghanistan berichtet und war nicht so leicht einzuschüchtern. Das Militär richtete auf offener Straße Milizenanhänger hin? Uniformierte Leichen trieben den Potomac hinunter? Miss B. hatte Schlimmeres gesehen. Möglicherweise war diese beruflich bedingte Abgebrühtheit ihr Problem: Ihre Sinne waren abgestumpft, sie konnte drohendes Unheil nicht mehr wittern. Ihr war womöglich nicht klar genug gewesen, dass sie genau wie alle anderen Medienvertreter ausgesprochen vorsichtig mit dem umgehen musste, was »die Wahrheit« genannt wurde.
In anderen Teilen der Welt hätte sie geschwiegen, weil sie es so gewohnt war. Aber hier, zu Hause, hatte sie die Stimme erhoben und einen der Zensoren geohrfeigt, als er ihren Kommentar aus einer Reportage herausschneiden wollte. Es ging um die Jagd des Militärs auf illegale Arbeiter ohne Ausweispapiere und deren Deportation zur mexikanischen Grenze, wo man sie im Niemandsland ablud. Und da mussten sie bleiben, weil sie keine Papiere hatten und auch die Mexikaner sie ohne Legitimation nicht in ihr Land lassen wollten. Das war ein wichtiger, aktueller Beitrag gewesen. John hätte genau wie die Kollegin für das Recht gekämpft, über dieses Unrecht berichten zu dürfen. Tausende des Landes verwiesener Menschen saßen auf einem zweihundert Meter breiten Landstreifen fest, ohne jegliche Grundversorgung. Unschuldige, bettelarme Menschen lagen nachts am Boden und zitterten vor Kälte, während von beiden Seiten der Grenze Waffen auf sie gerichtet waren!
Seit der Mittagspause war Miss B. von niemandem mehr gesehen worden. Manche sagten, sie hätte genug gehabt – die Frage war nur, wovon. John befürchtete das Schlimmste.
Er legte die Hände an den Kopf, wollte die Verwirrung wegmassieren. Kurz bevor er seinen Schreibtisch verlassen hatte,war noch ein Anruf gekommen, der ihn beschäftigte. Eine Quelle im Weißen Haus hatte der Redaktion mitgeteilt, es habe einen Attentatsversuch auf den Präsidenten gegeben, aber die Nachricht dürfe vorerst nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Damit war klar, dass es weitreichende Maßnahmen geben würde, und die würden vermutlich noch heftiger ausfallen als nach dem letzten Mal. So war es bisher immer gewesen, wenn in der näheren Umgebung des Präsidenten etwas Schlimmes passiert war.
Er schenkte sich ein zweites Glas Whisky ein und sah wehmütig zu Danny hinüber, dessen Kopf seitlich an der Rückenlehne lag. Die Beine auf dem Tisch waren so verrutscht, dass sie die vielen Tablettengläser und -schachteln gefährlich nahe an den Abgrund der Tischkante geschoben hatten. Er würde nicht gerne so gesehen werden, also nahm John die Medikamente und brachte sie in die Küche.
Dann setzte er sich an den Esstisch, hob die
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