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Das weiße Amulett

Das weiße Amulett

Titel: Das weiße Amulett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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Dachrand entlangstolpern und lächelte siegessicher.
    »Bleiben Sie stehen!«, forderte Karen ihn auf. »Wenn Sie näher kommen, springe ich.«
    Doch der Fremde zuckte nur mit den Schultern. »Was für eine Drohung«, höhnte er. »Dann hol ich mir das Amulett eben neben deiner zerschmetterten Leiche.« Er ging langsam auf sie zu und richtete seine Waffe auf sie.
    Karen wusste nicht, was sie tun sollte. Sie befand sich auf dem Dach eines fünfstöckigen Hauses, hinter ihr eine Häuserschlucht und vor ihr ein fremder Mann, der sie gleich erschießen würde. Wie hatte es nur so weit kommen können? Michael war tot, und sie würde es in wenigen Sekunden auch sein.
    Sie hob ihren rechten Arm mit dem Djed-Pfeiler in die Höhe. »Sie wollen das Amulett?«
    »Nein«, zischte der Mann durch die Zähne, »das Amulett ist mir egal. Es ist das …l, das mich interessiert. Es macht unsterblich. Wusstest du das nicht?«
    »Unsinn, niemand ist unsterblich.«
    »Sehr richtig. Nur die Seele ist unsterblich. Aber mit diesem …l kann man sehr lange leben und der Unsterblichkeit nahe kommen. Hundert Jahre sind kein Problem, hundertfünfzig Jahre möglich, ja, vielleicht sogar zweihundert. Stell dir das vor, ein Mensch, der zweihundert Jahre alt wird.«
    »Ein schrecklicher Gedanke«, entgegnete Karen.
    »Das kommt ganz darauf an, ob man zu den wenigen Auserwählten gehört, die es nutzen dürfen, oder nicht.« Alter Neid und Hass lagen in seiner Stimme, als er weitersprach. »Du hast immerhin auch davon genascht.«
    »Ich habe das …l nicht angerührt.«
    »O doch, das hast du. Dein Freund Cha-em-weset hatte die Geheimformel entdeckt und wollte damit deine Regentschaft und seine eigene Machtherrschaft im Amuntempel für viele Jahrzehnte stärken. Aber eine lange Regentschaft hätte Ägypten geschwächt. Deswegen mussten wir eingreifen, ich und meine Freunde.« Seine Augen schienen im Dunkeln zu funkeln. »Deine Dynastie musste aussterben. Niemand durfte überleben.«
    Karen spürte, wie sich tief in ihrem Inneren etwas schmerzhaft zusammenzog. Sie stöhnte leise auf. »Ich verstehe nicht …«
    Der Fremde lachte hart. »Nein, du verstehst wirklich nicht. Du weißt nicht, warum dich in Paris und Ägypten immer wieder tiefe Melancholie überkam, nicht wahr? Ja, ich habe dich beobachtet und es in deinen Augen gesehen. Die Orte, die deine Seele wieder erkannte, zerrissen dir das Herz. Aber du wolltest es nicht wahrhaben. Eben hast du zur Straße hinuntergeschaut. Kommt sie dir nicht bekannt vor?«
    Karen warf noch mal einen schnellen Blick über die Schulter und sah einen verwilderten Garten, eine große Kastanie und einen alten gusseisernen Schmiedezaun mit verwitterten goldenen Spitzen.
    Der Zaun … die Kastanie … die Häuser …
    Für Sekundenbruchteile erschien ein Bild vor ihrem inneren Auge. Es war wie ein dunkler Traum. Sie ging die Straße entlang. Eine Straße, die sie gut kannte. Sie war sie öfter entlanggegangen. Dann, wenn sie zu …
    »Die Rue de Limoges«, antwortete sie benommen.
    »Richtig«, sagte der Fremde, dem dieses Wiedersehen offenbar Spaß bereitete. »Es war an einem Montag, dem 16. September 1907. Der Abend war kühl und herbstlich, so wie heute. Neumond. Keine Sterne am Himmel. Du wolltest zu Lescot – aber er war nicht da.« Er wedelte mit seiner Pistole und lächelte, dass Karen die Nackenhaare zu Berge standen. »Tja, der gute Lescot. Auch ihn hast du nicht wieder erkannt. Und dabei hat Mansfield die ganze Zeit versucht seinen Fehler von damals wieder gutzumachen. Er wusste zwar nicht warum, aber er hat dich bei deiner Aufgabe unterstützt, wo er nur konnte. Doch du warst blind und dumm. Die Opéra Garnier … der Trocadéro … Tja, Paris hat sich in den letzten hundert Jahren verändert.«
    Karens Knie wurden weich, als sie sich an ihre zwiespältigen Gefühle erinnerte, diesen inneren Kampf, den sie immer wieder mit sich ausfocht, seit sie in Paris war. Ihre ursprüngliche Abneigung gegen diese Stadt. Wie sehr hatte sie sich gegen den Auftrag gewehrt, doch Julius hatte sie schließlich überreden können. Aber sie erinnerte sich auch an die wohligen Gefühle, als sie in der Sorbonne und in der Nationalbibliothek war, und an diese unerklärliche Nähe, die sie Michael gegenüber immer gespürt hatte, dieses tiefe Vertrauen, von Anfang an.
    Gedankenfetzen und Bilder schwirrten durch ihren Kopf: der Professor … das Deckengemälde in der Oper … der blaue Nil mit den grünen Ufern … das Tal der

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