Das weiße Amulett
schrilles Keifen über. Seine Hand zitterte vor Wut.
Mansfield hatte sich allmählich wieder gefangen und spürte einen unbändigen Zorn in sich aufsteigen. Einen Zorn, der schon seit Ewigkeiten in ihm ruhte.
»Du verdammter Bastard!«, schrie er wie von Sinnen und zog den Abzug seiner Pistole mehrmals durch.
Der Fremde taumelte zurück und erwiderte das Feuer fast gleichzeitig.
Michael fühlte, wie ein tiefer Schmerz seinen Körper durchzuckte. Der Schmerz nahm ihm den Atem und schien ihn zu zerreißen. Von mehreren Schüssen getroffen, taumelte er rückwärts gegen die Wand und sank langsam zu Boden, wo er hart mit dem Kopf auf die alten Steinfliesen aufschlug. Der Schmerz ließ schnell nach. Nur noch verschwommen nahm er ein sanftes Licht wahr, das rechts von ihm die Dunkelheit durchbrach und allmählich weniger wurde.
Die große Dunkelheit kam näher. Eine Erinnerung verblasste. Aber ein Gedanke blieb.
»Lauf, Karen, lauf …«, flüsterte er mit letzter Kraft.
51
Der gusseiserne Torbogen warf gespenstische Schatten in den Hof, als Karen unten ankam. Sie rannte zum Ausgang, als plötzlich mehrere Schüsse durch die Passage hallten. Ängstlich blickte sie hinauf zur Galerie.
»Michael?«
Mit pochendem Herzen hoffte sie, dass er sich über das Geländer beugen und ihr zuwinken würde. Aber stattdessen hörte sie nur schwere Schritte die Treppe herunterpoltern. Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Sie warf einen letzten Blick nach oben, aber Michael war nicht zu sehen. Er hatte es nicht geschafft. Sie war allein.
Karen rannte los. Völlig von Sinnen eilte sie durch die dunklen Straßen und rief laut um Hilfe, aber nur wenige Wohnungen waren noch beleuchtet, und von den Bewohnern interessierte sich niemand für das Geschehen auf der Straße. Sie hatten es sich schon lange abgewöhnt, nach Einbruch der Dunkelheit die Tür zu öffnen. Und Hilferufe gab es oft in dieser Gegend. Niemand kümmerte sich darum.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als weiterzulaufen und zu hoffen, dass sie in irgendeiner Straße auf eine Polizeistation treffen würde. Atemlos blieb sie an einer Straßenlaterne stehen und wollte rechts um die Hausecke biegen, als sie den Fremden nur einen knappen Häuserblock entfernt sah, der sich suchend umschaute. Sie zuckte zurück und wollte sich hinter einer halbhohen Steinmauer verstecken, doch er hatte sie bereits entdeckt und rannte auf sie zu.
Die Schmerzen in ihrer Hüfte wurden immer stärker. Sie würde ihrem Verfolger nicht mehr lange entkommen können. Vor sich sah sie eine lang gestreckte Straße, die ihr keinen Schutz bot. Der Fremde würde sie in weniger als einer Minute einholen. Also nahm sie die kleine Nebenstraße, die sich rechts von ihr öffnete. Doch das war ein Fehler. Nach der dritten Hausnummer erkannte sie, dass die Straße in einer Sackgasse endete. Karen drehte sich um, aber es war bereits zu spät. Ihr Verfolger war schon in die Straße eingebogen und ging mit langsamen, selbstgefälligen Schritten auf sie zu.
Karen, die nicht mehr wusste, was sie tun sollte, drückte wie wild auf die Klingel des mehrstöckigen Mietshauses, vor dessen Eingang sie stand. Jemand öffnete per Knopfdruck die Tür, und sie stolperte in den weiß gefliesten Flur, humpelte die alte Holztreppe hinauf und schrie laut um Hilfe. Aber es öffnete sich keine Tür.
Oben waren Mansardenwohnungen, die anscheinend schon seit mehreren Jahren unbewohnt waren. Karen schlich in eine von ihnen und verbarrikadierte die Tür mit alten Stühlen und Balken, doch das schien ihr nicht sicher genug, und so öffnete sie eins der Mansardenfenster und kletterte auf das schmale Zinkdach. Es war riskant, denn sie musste um das Mansardenfenster herumklettern, um auf den First des Dachs zu gelangen. Oben angekommen, suchte sie nach einer Feuerleiter, aber in der Dunkelheit der Nacht war kaum etwas zu erkennen. Es war Neumond, und ein leichter Regen rieselte auf die Dächer von Paris.
Doch, dort hinten war etwas. Links von ihr sah sie eine rostige Feuerleiter. Sie humpelte darauf zu und wollte schon an dem metallenen Geländer hinunterklettern, als sie einen Blick nach unten warf und ihr der Atem stockte, – es fehlte das letzte Stück. Die Leiter endete ungefähr zehn Meter über dem Boden.
Hinter sich hörte Karen Geräusche und sah, wie der Fremde aus dem Schatten eines Schornsteins heraustrat. Er schien sie noch nicht bemerkt zu haben und suchte das Dach mit einem raschen Blick ab, doch dann sah er sie am
Weitere Kostenlose Bücher