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Das weiße Amulett

Das weiße Amulett

Titel: Das weiße Amulett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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eine schmale Zwischenfassade, die er schwerfällig hinunterkletterte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schwankte er auf dem schrägen Zinkdach auf Karen zu. Er spürte, wie ihn allmählich die Kraft verließ. Er musste das Amulett haben.
    Plötzlich griff Karen nach dem Amulett und schlug gleichzeitig mit ihrem linken Bein gegen sein rechtes Knie und brachte ihn zum Taumeln. Er wedelte mit den Armen in der Luft, verlor das Gleichgewicht, und erst im letzten Augenblick konnte er sich an Karens Beinen festhalten, sodass beide das nasse Dach hinunterrutschten.
    Verzweifelt griff Karen nach einem dünnen Schornsteinrohr, aber sie verfehlte es. Im letzten Moment fasste sie nach einer schmalen Steinverzierung und klammerte sich daran fest, während der Fremde verzweifelt versuchte sich an ihren Beinen festzuhalten. Mit Todesangst sah er auf die Steinplatten unter sich. Zentimeter für Zentimeter glitt er unaufhaltsam nach unten. Schließlich spürte Karen ihn nicht mehr.
    Ein gellender Schrei ging durch die Rue de Limoges, dann folgte ein schauerliches Geräusch, als sich die goldenen Metallspitzen des alten Zauns in den Körper des Unbekannten bohrten.
    Danach herrschte Stille. Eine friedliche Stille. Nur das Rauschen der alten Kastanie klang sanft zu Karen hinauf, als wollte es sie beruhigen, doch sie hörte es nicht. Es war alles vorbei.
    Ihre linke Schulter war vom Schuss völlig taub. Nur mit übermenschlicher Kraft hatte sie sich bisher festhalten können. Ihr wurde schwarz vor Augen. Plötzlich hörte sie zwei aufgeregte Männerstimmen. Gleichzeitig griffen kräftige Hände nach ihren Beinen.
    »Madame! Mon Dieu, wir ziehen Sie herein. Nur noch einen Augenblick. Halten Sie durch.«
    Sie glaubte zu halluzinieren, aber die Hände an ihren Beinen waren sehr real. Im nächsten Moment wurde sie am Gürtel und am Oberschenkel gepackt.
    »Lassen Sie jetzt los, wir haben Sie.«
    Karen sah auf die steinernen Wegplatten im Garten unter sich. »Sind Sie sicher?«
    Vater und Sohn warfen sich in dem kleinen Badezimmer des obersten Stockwerks einen fragenden Blick zu. Sie waren sich keinesfalls sicher, aber hatten sie eine andere Wahl? Der Vater fuhr sich nervös mit der Zunge über die trockenen Lippen.
    »Madame, vertrauen Sie uns. Kommen Sie, ich habe Sie am Gürtel, und mein Sohn hält Sie am Bein fest. Wir ziehen Sie herein.«
    »Also gut. Bei drei lasse ich los. Haben Sie verstanden?«
    »Oui!«
    »Alez: un – deux – trois!«
    Karen ließ die Steinverzierung los und schlug hart auf das Fensterbrett auf, doch schon im nächsten Moment wurde sie von kräftigen Händen ins Zimmer gezogen und auf den kalten Kachelfußboden gelegt. Der etwa fünfzehnjährige Sohn warf einen Blick aus dem Fenster, um zu schauen, was aus dem Mann geworden war, der vom Dach gefallen war. Entsetzt sah er, dass die goldenen Spitzen des alten Eisenzauns aus seiner Brust ragten, während die leeren Augen des Toten ungläubig zu ihm hinaufstarrten.
    Der Vater packte seinen Sohn energisch am Arm und schüttelte ihn. »Lass ihn, Justin. Dem kann sowieso keiner mehr helfen! Lauf und ruf einen Arzt. Schnell.«
    Erst jetzt sah Justin den roten Fleck auf der linken Schulter der Frau und wurde blass. Er nickte seinem Vater zu und rannte in den Flur, während der Mann aus einem kleinen Wandschrank Verbandszeug und Schere holte.
    Karen war kurz bewusstlos gewesen und kam jetzt langsam wieder zu sich. Leicht benommen hob sie den Kopf und bemerkte, dass sie sich in einem kleinen Badezimmer befand. Auf einmal gab ihr ein Gedanke neue Energie, und sie griff zitternd nach ihrem Handy in der Manteltasche. Der Mann sah sie misstrauisch an. Vor der Haustür lag ein Toter, vor ihm lag eine Frau mit einer Schussverletzung, und wer weiß, wer noch kommen würde, wenn sie jetzt jemanden anrufen würde. Ängstlich beobachtete er, wie sie das Handy bediente und eine gespeicherte Telefonnummer wählte.
    »Wir sollten lieber die Polizei rufen«, sagte der Mann und rieb sich nervös den Hinterkopf, aber Karen ignorierte ihn und hielt mit zitternder Hand das Handy an ihr Ohr.
    Wenige Straßen entfernt klingelte ein anderes Handy in einer durchsichtigen Plastiktüte, ein überraschter Mann öffnete die Tüte und nahm es heraus.
    »Hallo?«, sagte eine männliche Stimme.
    Karen zögerte. »Michael?«
    Es entstand eine kurze Pause. »Madame Alexandre? Sind Sie es?«
    In Karens Hals bildete sich ein Kloß. Ihr Herz blieb stehen.
    »Madame Alexandre! Um Himmels willen, legen Sie nicht

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