Das weiße Amulett
so deine Arbeit in der Uni unterbrechen?«
Zwischen seinen Augen bildete sich eine kleine Falte. »Warum fragst du?«
»Na ja, du bist immer so beschäftigt, dass du … ich habe jedenfalls nicht mit dir gerechnet, wenn ich ehrlich bin.«
Seine grauen Augen blickten sie spöttisch an. »Es war sehr rücksichtsvoll von dir, dich vor dem Wochenende anschießen zu lassen, Schwesterherz. Dadurch verliere ich keinen einzigen Tag.«
Kay kam damit wie immer mit ernsten Dingen nur über Spott klar. Er hatte sich nicht verändert.
»Ich bin froh, dass du da bist«, sagte sie.
Er legte die Blumen beiseite und griff nach ihrer Hand, als er merkte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. »Was ist los, Karen?«
Sie wich seinem Blick aus und starrte durch das Fenster auf die gegenüberliegende Krankenhausfassade. Die Herbstsonne schien mit wunderbarer Kraft ins Zimmer, aber sie konnte Karens trauriges Gemüt nicht erhellen. Für sie hätte es genauso gut regnen können. Es war ihr egal.
»Es sind Menschen gestorben«, flüsterte sie.
Kay spürte, wie sich ihre Hand verkrampfte. »Wie meinst du das?«
»Sie sind meinetwegen gestorben.«
»Was redest du für Zeug? Wer ist gestorben? Und warum sind sie gestorben?«
Wie in Trance berichtete Karen von den Geschehnissen der vergangenen Wochen in Paris und Ägypten, bei deren Schilderung Kay merklich blasser wurde. Er hatte nicht gewusst, dass sie in Ägypten gewesen war, und nahm sich insgeheim vor, Julius einen Besuch abzustatten und ihm klar und deutlich seine Meinung zu sagen. Es war nicht das erste Mal, dass Julius’ Buchprojekte seine Schwester in Lebensgefahr brachten. Wie konnte er sie nur immer wieder losschicken?
»Du solltest keine Aufträge mehr von Julius annehmen, Karen. Sie bringen dich jedes Mal in Gefahr.«
Doch seine Schwester schüttelte energisch den Kopf. Sie liebte die freie Mitarbeit in dem kleinen Verlag. Ihr Patenonkel zahlte gut, und sie bekam alle Freiheiten, die sie sich wünschte.
»Es liegt nicht an Julius«, erklärte sie voller Überzeugung, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass dieser sie bewusst einer Gefahr aussetzen würde.
Kay war da anderer Meinung, aber er schluckte sie hinunter.
»Und dieser Amerikaner und der Kommissar? Wie geht es den beiden?«
Karen schielte zur Tür und horchte nach Geräuschen im Flur, aber es schienen keine Schwestern oder Krankenpfleger unterwegs zu sein, die sie aufhalten und wieder ins Zimmer zurückschicken konnten.
»Lass uns zu ihnen hingehen und mal nachschauen«, sagte sie. Sie stemmte sich schwerfällig hoch, doch Kay sah sie skeptisch an.
»Darfst du denn schon aufstehen?«
Mit einem Ruck zog sie die Bettdecke beiseite und setzte sich mit leichten Schwierigkeiten auf die Bettkante. Zum Glück sah ihr Bruder die kleinen Schweißperlen auf der Stirn nicht, als sie nach ihrem Bademantel griff. »Na klar, sonst würde ich es nicht tun.«
Umständlich quälte sie sich mit ihrer Armbinde in den Mantel hinein, den Kay ihr aufhielt.
»Du sagst aber Bescheid, wenn dir schwindlig wird, okay?«
Karen stand langsam auf und stieg in ihre Sandalen. Er wollte sie stützen, aber sie taumelte nicht.
Kay öffnete ihr die Tür. »Zu wem gehen wir zuerst?«
»Zu Michael«, antwortete sie und machte einige vorsichtige Schritte in den Flur. Dies war die Gelegenheit, auf die sie die ganze Zeit gewartet hatte. Nein, sie würde nicht schwach werden. Sie würde es schaffen. Wenigstens bis zu Michael.
Die Sichtfenster der Intensivstation gaben den Blick auf einen abgedunkelten Raum frei, in dem nur Maschinen das einzig Lebendige zu sein schienen.
»Welcher ist es?« Kay sah von einem unglücklichen Patienten zum anderen, aber eigentlich kam nur einer in Frage. Die anderen Männer waren Mitte fünfzig oder älter.
»Der Erste, hier vorne«, antwortete sie leise und betrachtete Michaels entspanntes Gesicht. Es hatte eine unheimliche Sanftheit, die ihr Herz zusammenschnürte.
Kay musterte beunruhigt die vielen Schläuche und Geräte, die Mansfield mit lebenswichtigen Funktionen versorgten, und biss sich auf die Lippe.
Genau in dem Augenblick hob Karen den Kopf, und Kay sah Tränen in ihren Augen. »Er darf nicht sterben, Kay. Bei Gott, er darf nicht sterben«, schluchzte sie und lehnte sich an die Schulter ihres Bruders, der sie vorsichtig in den Arm nahm.
»Ich bin sicher, dass er es schafft«, sagte er, doch seinen Worten fehlte die Überzeugung. Er sah über Karen hinweg auf eine brüchige Holzbank, die
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