Das weiße Amulett
er eine gute Chance hat«, behauptete Durel und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Mansfield hatte einen Streifschuss am rechten Oberschenkel und zwei Kugeln abbekommen. Seine Schulterverletzung war nicht lebensgefährlich, aber der dritte Schuss hatte seinen Magen nur um einen Zentimeter verfehlt. Ein Zentimeter, der ihm das Leben retten konnte. Vielleicht.
Karen schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Als sie sie nach einigen Atemzügen wieder öffnete, waren sie grau und stumpf. »Was haben die Ärzte mit mir gemacht?«
Ein Lächeln spielte um Durels Mund. »Nun, Madame, es gibt eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, Sie hatten einen glatten Durchschuss, und die Heilung verläuft sehr gut.«
»Und die schlechte?«
»Sie werden Narben zurückbehalten und vielleicht nie wieder ein schulterfreies Kleid tragen können.«
»Damit werde ich leben können«, murmelte sie, und wieder übermannte sie der Schlaf.
52
Die von den Ärzten verordnete Ruhe fesselte Karen zwei unerträgliche Tage ans Bett, in denen sie Michael nicht besuchen durfte, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünschte. Fünfmal hatte sie versucht aufzustehen und hatte auch die paar Schritte bis zur Zimmertür geschafft, aber für einen längeren Gang durchs Krankenhaus reichte die Kraft nicht. Schwindelgefühle und weiche Beine zwangen sie zum Aufgeben. Alleine würde sie es niemals schaffen.
Warum halfen ihr die Krankenschwestern nicht? Sie hätten sie mit Leichtigkeit im Rollstuhl zu Michael fahren können, aber Karen vermutete, dass die Ärzte es verboten hatten. Es war zum Verzweifeln. Sie musste zu Michael, musste ihn unbedingt sehen. Sehen, dass es ihm gut ging. Warum verstand das niemand?
Niedergeschlagen lag sie in ihrem Bett und dachte immer wieder über die letzten drei Wochen nach – wie sie Michael kennen gelernt hatte, wie er ihr bei den Bernhardt-Recherchen half, wie er andauernd versucht hatte, sie in Paris von ihren Rückschlägen abzulenken. Warum nur war ihr nicht schon früher aufgefallen, dass sie immer nur Gebäude und Orte der Belle Époque besucht hatten? Warum nie Notre-Dame, das touristische Ziel Nummer eins in Paris?
Weil Bernhardt und Lescot nie zusammen in Notre-Dame waren, dafür aber die Weltausstellung von 1900 auf dem Marsfeld besucht haben.
Mit einem schmerzlichen Lächeln musste sie an den diesmaligen Besuch des Marsfelds denken. Und an die Flucht vor dem Fremden.
Ägypten. Auch dort war der Mörder hinter ihr hergewesen, aber Michael hatte sie gerettet. Wie so oft.
Sie und Michael hatten sich in Kairo gestritten – ein alter Bernhardt-Lescot-Fehler? Es schien fast so, denn erst jetzt bemerkte Karen, dass sie bei ihrem ersten Treffen nach dem Überfall am Metroausgang wieder mit einem Streit ihre Beziehung begannen. Michael hatte nicht zu einen Arzt fahren wollen, doch sie hatte darauf bestanden. Es war ein kurzer, harter Kampf gewesen, ehe Michael schließlich nachgab.
Hatten sie wirklich wieder dort angefangen, wo sie vor hundert Jahren aufgehört hatten? Sie konnte es kaum glauben.
Und nun?
Den Überfall in der Wüste hatte Michael überlebt, nur um jetzt in Paris zu sterben? Der Gedanke war für sie unerträglich. Deprimiert starrte sie auf die weiße Zimmerdecke und hörte auf die leise Musik eines Radios, das neben ihr auf dem Abstelltisch stand. Durel hatte es ihr geliehen, aber es spielte nur traurige Lieder. Jedenfalls schien es ihr so.
Doch plötzlich wurden die französischen Chansons durch ein energisches Klopfen an der Tür unterbrochen und ein hochgewachsener schlanker Mann mit schwarzem Vollbart, schwarzer Metallbrille und hellbraunem Trenchcoat trat herein.
Karen traute ihren Augen nicht, als sie ihren Bruder erkannte. »Kay? Was machst du denn hier?«
Ihr blieb vor Überraschung die Luft weg, als er um das Bett herumkam, ihr einen Blumenstrauß entgegenhielt, und mit einem spöttischen Lächeln auf sie hinabsah. »Die Pariser Polizei hat bei Mudder und Vadder angerufen und ihnen mitgeteilt, dass du mit einer Schussverletzung im Krankenhaus liegst.«
»O nein!«
»O doch. Aber immerhin sagten sie auch gleich, dass du nicht in Lebensgefahr seist, und fragten nach deiner Sozialversicherungsnummer.«
»O nein!«
»O doch. Jedenfalls riefen Mudder und Vadder sofort bei mir an und fragten, ob ich nicht mal schnell zu dir fliegen könne, um nachzuschauen, wie es dir geht und ob du Hilfe brauchst.«
Sie sah ihn dankbar an. »Konntest du denn einfach
Weitere Kostenlose Bücher