Das weiße Amulett
einsam und verloren im kalten Flur stand. Wie viele ängstliche Angehörige hatten schon auf dieser Bank gesessen und auf gute Nachrichten gewartet? Kay wollte nicht länger darüber nachdenken, es war zu deprimierend.
»Er muss«, beharrte Karen. »Michael darf nicht so gehen. Das wäre nicht fair.« Kraftlos schlug sie mit der rechten Faust gegen die Brust ihres Bruders.
»Er wird«, sagte Kay und drückte sie an sich. Nach einer Weile wagte er einen kleinen Vorschlag. »Sollen wir beim Kommissar vorbeischauen, oder willst du lieber wieder ins Bett zurück?«
Sie löste sich aus seiner Umarmung und wischte sich die Tränen weg. Dann nickte sie und nannte die Station, auf der Laurent lag.
»Ihm geht es besser. Er ist heute Morgen von der Intensivstation auf die normale Krankenstation verlegt worden«, erklärte sie Kay mit einem letzten Schluchzen und ging langsam zum Lift. Doch als sie bei Laurent ankamen, schlief er. Sie wollten ihn nicht stören und gingen wieder in Karens Zimmer zurück, wo sie ihren Bademantel auszog und sich ins Bett legte.
»Es war doch zu anstrengend für dich«, sagte Kay missbilligend, während er zusah, wie sie sich zudeckte und umständlich das Kopfkissen zurechtrückte. Er wollte ihr gerade helfen, als sie es geschafft hatte und sich zurücklehnte. »Kann ich irgendetwas für dich tun? Ich fliege erst heute Abend wieder zurück und könnte noch Besorgungen für dich erledigen.«
Karen freute sich, dass er sich so um sie kümmerte. Das war sie nicht von ihm gewohnt. Sie hatten sich das letzte Mal vor einem Jahr zu Johannas Geburtstag gesehen, wo sie sich über irgendeine Kleinigkeit gestritten hatten. Und nun brauchte sie ihn tatsächlich dringend. Es gab da etwas, das ihr auf der Seele brannte.
»Meine Sachen hat Laurents Kollege mir bereits gebracht, aber du könntest etwas anderes für mich tun, was mir sehr wichtig ist.« Mit der rechten Hand griff sie unter ihr Kopfkissen und holte den in ein Leinentuch gewickelten Djed-Pfeiler hervor. Sie hielt ihn ihrem verblüfften Bruder entgegen, der den alten Alabaster zögernd in die Hand nahm und ihn betrachtete.
»Ein Amulett. Und was soll ich damit machen? Soll ich es irgendwo hinbringen?«
»Es ist nicht nur ein Amulett. Wie du siehst, hat es einen Verschluss.«
Kays Kopf schoss in die Höhe. Sein Forschergeist war sofort hellwach. »Da ist etwas drin? Rückstände einer Salbe oder so, und du willst, dass ich es analysiere? Aber Karen, ich forsche nicht für die Vergangenheit, sondern für die Zukunft. Eine jahrtausendealte Schminke mag ja für Archäologen eine Sensation sein, aber ich bin Chemiker. Ich kann die Ressourcen meiner Uni nicht für private Altertumsforschungen missbrauchen.«
»Das weiß ich. Und du sollst sie auch nicht missbrauchen. Allerdings gehst du von falschen Prämissen aus. Es handelt sich hier nicht um Schminke, sondern um ein altes Medikament. Es ist ein …l.«
»Gegen Sonnenbrand?«
»Kay, dieses Amulett wurde einem Pharao ins Grab mitgegeben, der über hundertvierzig Jahre alt wurde. Was glaubst du wohl, wie er das geschafft hat?«
»Völliger Blödsinn. Niemand wird hundertvierzig Jahre alt. Unsere Telomere sind so gepolt, dass sie sich irgendwann nicht mehr erneuern, und dann stirbt die Körperzelle ab. Diesen Prozess nennt man Altern . Niemand kann das aufhalten.«
»So war es bisher«, entgegnete Karen.
»So ist es seit vier Milliarden Jahren. Außerdem gibt es keinen Pharao, der …« Er kniff die Augen zusammen, als er Karen genauer ansah. »Dieser hundertvierzigjährige Pharao …«
»… existiert wirklich. Allerdings möchte ich dich um Diskretion bitten. Die Ägyptologen haben die Entdeckung noch nicht öffentlich gemacht. Sie wollen in Ruhe ausgraben, ehe die Journalisten auf sie einstürzen.«
Kay betrachtete den kleinen Djed-Pfeiler in seiner Hand. Er konnte nicht glauben, was seine Schwester erzählte. »Du meinst das wirklich ernst?«
»Absolut. Es ist kein Scherz. Wegen dieses Amuletts wollte man mich umbringen. Es gab zwölf Stück davon, aber dies ist das letzte, das intakt ist. Ich bitte dich, Kay. Wegen dieses Amuletts liegt Michael auf der Intensivstation. Bitte tu mir den Gefallen. Es darf nicht alles umsonst gewesen sein.«
Kay Alexander war hin und her gerissen zwischen Unglauben und aufkommender Neugier. Was für eine abenteuerliche Geschichte. Es juckte ihn in den Fingern. Sein Forscherdrang und seine Neugier waren geweckt. Es würde sicherlich nicht schaden, einige
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