Das weiße Amulett
hinterließen diese Räume einen tiefen Eindruck auf Karen.
»Es ist geradezu überwältigend, Monsieur Escard«, sagte sie ehrlich. »Ich bin Ihnen und dem Rektor wirklich dankbar, dass wir das alles sehen durften.«
Mansfield nickte nur höflich zustimmend. Im Gegensatz zu Karen fühlte er sich in diesen alten Räumen äußerst unwohl.
»Dabei haben Sie das Schönste noch gar nicht gesehen«, erwiderte der Sekretär und schloss die Türen hinter sich. »Bitte folgen Sie mir.« Wenige Minuten später standen sie vor einer mit Gold verzierten gusseisernen Tür, über der in goldenen Lettern Grand Amphithéâtre stand.
Diesmal stockte auch Mansfield der Atem, als sie in den großen Hörsaal traten. Vor ihnen öffnete sich ein weißes Halbrund mit hellgrünen Sitzbänken, und an der Stirnseite des Podiums erstreckte sich ein zwanzig Meter langes Wandbild mit klassischen Allegorien. An den steinernen Eckpfeilern standen die Worte Liberté, Egalité, Fraternité.
»Sie haben Recht, Monsieur Escard, den schönsten Raum hatten wir bisher noch nicht gesehen«, sagte Karen, während eine Gänsehaut über ihre Arme lief. Staunend schaute sie auf die Bühne, wo Louis Pasteur gestanden hatte. Dort hinten links. Sie konnte das Klatschen der applaudierenden Menschen hören und sah die vielen roten Doktormäntel vor sich. Doch allmählich verebbte das Geräusch, und Karen bemerkte, dass sie die leeren Reihen unter sich anstarrte, was Escard mit einem wohlwollenden Lächeln registrierte. Er liebte es, wenn andere Menschen die Schönheit und Geschichte seiner Universität zu würdigen wussten.
»Möchten Sie vielleicht auch noch das Labor sehen, in dem Prof. Bernhardt seine Forschungen durchführte? Seitdem hat sich natürlich einiges verändert, aber vielleicht hilft Ihnen der Raum, sich eine ungefähre Vorstellung seiner Arbeit zu machen?«
»Ja, gern. Das wäre fantastisch.«
Monsieur Escard führte sie eine schmale Flurgalerie entlang und öffnete die zweitletzte Tür auf der linken Seite.
»Sie müssen sich den Raum mit zwei großen Kachelholztischen vorstellen, auf denen hunderte Glasflaschen, Bunsenbrenner, Holzregale mit Phiolen und Porzellandosen standen.«
Stattdessen blickte Karen auf die moderne Laborausstattung mit den automatischen Maschinen, die kleine Ampullen stundenlang gleichmäßig durchschüttelten. Daneben standen drei Geräte, die sie als überdimensionale Mikroskope erkannte, mit denen man computergesteuerte Forschungsergebnisse erzielen konnte.
Sie fühlte sich hier nicht wohl und drehte sich nach Mansfield um, aber der war nicht mehr hinter ihr, sondern stand an einem der Laborfenster und starrte auf den sonnenbeschienenen Innenhof. Karen stellte sich neben ihn und betrachtete sein hartes Profil. Sein Mund war ein dünner Strich, und seine Nasenflügel bebten, wenn er die Luft einsog. Das Gesicht war leichenblass, aber das konnte auch an dem hellen Kunstlicht des Labors liegen.
Was war mit ihm los?
Karen hatte das Bedürfnis, ihre Hand auf seine zu legen, die auf der Fensterbank ruhte, aber er zog sie unwirsch weg. Sie schaute ihn irritiert an. »Was ist mit Ihnen?«
Mansfield legte den Kopf in den Nacken. Sein Gesicht war angespannt, und sein Blick traf Karen tief in ihrer Seele.
Er machte ihr Angst.
»Nichts«, brummte er, drehte sich zu Escard um, der auf sie wartete, und schlenderte missmutig über das schwarz-weiße Karree-Parkett. Er und Escard gingen zur Tür, doch Karen brauchte noch einige Sekunden für die Eindrücke dieses Raums. Sie warf dem Labor mit seinen neuen Tischen und Gerätschaften einen letzten Blick zu und folgte dann den beiden Männern in den Flur.
In den nächsten Minuten verschwand Mansfields düstere Stimmung wieder, und als sie die Treppe zur Bibliothek erreichten, lächelte er Karen entschuldigend zu. Sie lächelte dankbar zurück, während Escard sie in eine Welt entführte, die sie wie eine Droge neu belebte.
Während sie die sechsundzwanzig Stufen zur Bibliothek hinaufgingen, versuchte Karen sich vorzustellen, wie viele Menschen diese weißen Stufen zum französischen Elysium bereits vor ihr erklommen hatten. Es war wirklich ein Ort der Seligen, wie Escard zu erzählen wusste, denn es befanden sich über drei Millionen Volumina in den Magazinen der Bibliothek. Eine Zahl, die Karens Herz höher schlagen ließ.
»Darunter wird sicherlich auch etwas für Sie sein, Madame Alexandre«, zeigte er sich zuversichtlich und stellte ihnen Monsieur Tillier, den
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