Das weiße Amulett
Seiten hatten ihr nicht weitergeholfen. Es ging um chemische Vorgänge, auf die sie sich keinen Reim machen konnte.
Doch da war noch etwas anderes, weshalb sie sich nicht auf das Buch konzentrieren konnte.
Als Mansfield im Badezimmer verschwunden war, hatte sie ihr Traumtagebuch aus dem Rucksack genommen. Sie musste was überprüfen. Hatte sie sich getäuscht?
Nein, da war es. Mit angehaltenem Atem las sie die knappen Sätze ihrer Traumnotiz:
»Ich sehe viele bunte Verkaufsstände wie auf einem Flohmarkt. Es ist sonnig, kein Regen, kein Schnee. Die Bäume haben grüne Blätter. Es ist also kein Herbst oder Winter. Ich habe das Gefühl, in Frankreich zu sein. Jemand steht neben mir, aber ich weiß nicht, wer. In der nächsten Traumszene stehe ich vor einem Buchhändler. Er hat viele alte Bände. Ich nehme ein kleines rotes und ein größeres braunes Buch in die Hand, stelle sie aber wieder zurück. Dann sehe ich einen Band von Rilke. Ich bin überrascht und will ihn genauer anschauen, doch gleich daneben entdecke ich ein Buch, das mich mehr interessiert. Ich kann mich an den Titel nicht mehr erinnern, aber es hat irgendetwas mit einem Bernd oder Bernhard zu tun.«
Karen schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte die Szene vom Flohmarkt schon mal erlebt. In einem Traum. Ihr Blick wanderte zum Datum der Seite.
Der Eintrag war vor zwei Jahren!
16
Es war noch hell, als sie die Avenue d’Opéra hinauffuhren, von wo man die breite Fassade der Opéra Garnier mit ihren Doppelsäulen und den Statuen erkennen konnte. Von der Kuppel des Daches aus wachte Apollon mit der Lyra in der Hand, rechts und links von Pegasus flankiert, über das Wohl des Musentempels und seiner Besucher.
Mansfield und Karen gingen ins Vestibül, vorbei an Lully, Rameau, Gluck und Händel, die in ihrer nachdenklich steinernen Pose schon lange auf sie warteten. Nachdem sie ihre Mäntel an der Garderobe abgegeben hatten, erreichten sie wenige Augenblicke später das Treppenhaus der Oper, deren Anblick Karen den Atem verschlug. Die T-förmig geschwungene Treppe war mit ihren sanft ansteigenden weißen Marmorstufen und den hellen fein geäderten Onyxhandläufen ein einmaliges Erlebnis. Wie in Trance ging sie an den herrlichen Galvanolüstern vorbei und strich ehrfürchtig über den weißen Onyx des Treppengeländers. Mansfield bemerkte einen schimmernden Glanz in ihren Augen und musste unwillkürlich an dieselbe Handbewegung am Eingang der Sorbonne denken. Umgeben von Jaspissäulen, Marmor und Onyx, schien Karen beinahe innerlich zu leuchten.
»Das ist fantastisch«, hauchte sie und schaute sich um. Das Treppenhaus war nach drei Seiten hin mit Arkadenbögen geöffnet, und von den vielen Ovalbalkonen blieb kein Eintretender unentdeckt, was genau der Zweck des Gebäudes aus dem Second Empire war. Garnier hatte nicht nur einfach einen Musentempel erschaffen, sondern gleichzeitig dem Pariser Gesellschaftsleben ein neues Zentrum gegeben. Es war ein Tempel des Apollon, des Gottes des Lichts und der Musen, und sollte möglichst alle Sinne befriedigen. Dies war Garnier auf eine außerordentliche Weise gelungen. Die vielen Ornamente überfluteten Karen. Überall waren Masken, Lyren und Blumenornamente, die fließend ineinander übergingen und geschwungene Wandbögen verzierten. Nur die Säulen waren schlicht und sprachen allein durch ihr wertvolles Material. Farblich war alles harmonisch in hellen Braun- und leichten Rottönen gehalten, die durch das weiße Onyx der Treppe zum Leuchten gebracht wurden. Und hoch über ihnen lenkte Apollon in der hohen Kuppel sein Sonnengespann schwungvoll durch die Wolken. Orpheus bezauberte mit seiner Musik wilde Tiere, während die siegreiche Minerva mit einem …lzweig und Schild Poseidon abwehrte. Sie alle schienen ihre schützende Hand über die Menschen dieses Hauses zu legen.
Karen sah Mansfield an, der ihren Blick mit einem leichten Lächeln erwiderte.
»Mit Ihrer Vorliebe zu Steinen hätten Sie vielleicht besser Bildhauerin werden sollen, Karen. Sie scheinen ja fast eine Verbindung mit ihnen einzugehen.«
»Genauso empfinde ich es auch. Es ist ein sehr angenehmes Gefühl.« Jetzt bemerkte sie ein schalkhaftes Lächeln in seinen Augen. »Sie machen sich über mich lustig.«
»Nein, keinesfalls. Im Gegenteil, ich finde es äußerst faszinierend, einer Frau begegnet zu sein, die sich mehr für Marmor und Onyx interessiert als für Rubine und Diamanten.«
»Oh, Rubine und Diamanten sind auch sehr schön.«
»Es
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