Das weiße Amulett
Karen?
Er wirbelte herum und suchte nach dem weißen T-Shirt, das sie heute Morgen angezogen hatte. Schließlich sah er sie wenige Meter entfernt vor einem Holzregal eines Bouquinisten stehen. Im selben Augenblick schaute sie auf und hielt Michael lächelnd einen großen Bildband über Paris entgegen.
Mansfield versuchte seine Verwirrung nicht zu zeigen und lächelte gezwungen zurück. Wie glücklich sie in diesem Augenblick aussah. Er ging zu ihr und bestaunte höflich die anderen Bücher, die sie ihm zeigte. Karen war vollkommen in ihrem Element.
Wenige Schritte hinter ihnen beobachtete die Frau mit den schwarzen Haaren das Paar und beugte sich zu ihrer kleinen Tochter hinunter.
»Siehst du den Mann und die Frau dort drüben?«
Ihre Tochter nickte beflissen.
Die Frau sah ihnen bekümmert nach. »Neben ihnen geht der Tod.«
15
Karen sah Mansfield mit leuchtenden Augen an. »Das ist ein Paradies, Michael. Wirklich!«
Ihr Blick wanderte über die Buchtitel, und Mansfield war sicher, dass ihr kein einziges Wort entging. Ab und zu nahm sie ein Buch in die Hand, um es sich genauer anzuschauen.
»Sehen Sie hier?« Sie zeigte ihm ein kleines rotes Buch. »Ein Baedeker über Paris von 1907 … und hier ein Buch über die Weltausstellung von 1900. Auch im Original.« Sie blätterte darin. »Über vierhundert Seiten. Einfach wunderbar!« Da sie ahnte, wie teuer es war, stellte sie es wieder zurück und ging weiter. Mansfield aber griff nach den beiden Büchern und hielt sie abwägend in den Händen.
»Wollen Sie sie haben?«
Karens sehnsüchtiger Blick streifte die alten Bücher.
»Nein«, murmelte sie und blätterte in einem Kochbuch, das zufällig in ihrer Reichweite lag, auch wenn die Bilder und Rezepte sie nicht im Geringsten interessierten. Der Baedeker und das Buch über die Weltausstellung hätten ein kleines Vermögen gekostet, und sie wollte nicht, dass Mansfield noch mehr Geld für sie ausgab. Nach einer Weile legte sie das Kochbuch beiseite und suchte gezielt die vielen vergilbten Leinenbände des Bouquinisten nach interessanten Titeln durch. Sie fand ein Rainer Maria Rilkes Reise nach Ägypten , das sie ohne lange zu überlegen kaufen wollte, als ihre Hand plötzlich auf halbem Weg in der Luft erstarrte. Wie in Zeitlupe legte sie ihre Finger auf ein Buch, das neben Rilkes lag. Sie zog es aus der Reihe heraus und las ungläubig die verwischten dunkelbraunen Lettern des Einbands: Gerald Bernhardt, Auswirkungen von Stoffwechselkrankheiten auf den Menschen.
»Michael!«, rief sie.
Er fuhr herum. »Was ist?«
Sie hielt ihm das Buch entgegen. Er kam zu ihr und versuchte die französischen Wörter zu entziffern, aber Karen hatte es schon wieder in beiden Händen und blätterte ungläubig darin.
Mansfield bemerkte einen Triumph in ihren Augen und konnte kaum glauben, was ihm durch den Kopf schoss.
»Ist es von ihm?«
Karen nickte. »Ja, von ihm«, sagte sie und fragte den alten Mann hinter den Regalen nach dem Preis. Mit einem Stirnrunzeln versuchte der sie einzuschätzen und überlegte, dass sich noch nie jemand für dieses Buch interessiert hatte. Schließlich stieß er ein brummiges »Siebzig Euro« hervor. Karen tat empört, nahm das Rilke-Buch in die Hand und handelte den Preis für beide Bände auf sechzig Euro runter. Der Bouquinist war einverstanden und nahm das Geld schnell entgegen, ehe die Frau es sich womöglich anders überlegte. Er ahnte nicht, was für einen Schatz er ihr verkauft hatte.
Mit zittrigen Knien stand Karen neben Mansfield und drückte die Bücher fest an ihre Brust, was dieser mit einem leichten Lächeln kommentierte. Noch nie hatte er eine Frau kennen gelernt, die man mit einem alten Buch glücklich machen konnte, es sei denn mit einer fünfhundert Jahre alten Gutenberg-Bibel, die einen Wert von drei Millionen Dollar hatte. Aber er verstand Karens Glückseligkeit, hatte sie doch eine Enttäuschung nach der anderen erlebt. Alle Niedergeschlagenheit der letzten Tage war auf einmal verschwunden.
»Mir scheint, wir sollten schnell ins Hotel zurückfahren, damit Sie in aller Ruhe das Buch lesen können. Oder was meinen Sie?«
»Ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten. Aber es wäre schrecklich unhöflich.«
Er lachte. »Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Mein Aufenthalt in Paris ist schon interessant genug.«
Sie fuhren ins Hotel zurück, aber Karen konnte nur eine Stunde in dem Buch lesen, denn dann musste sie sich für den Ballett-Besuch zurechtmachen. Die ersten
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