Das weiße Amulett
Monographie über einen Chemieprofessor zu schreiben, schwor sie insgeheim und musste an Julius’ Worte denken: »Du wirst sehen, es wird dir einfacher von der Hand gehen, als du glaubst.«
Karen atmete tief durch. Sie blätterte weiter und bemerkte zu ihrer Freude zwei voll beschriebene Seiten ohne Formeln. Sie setzte sich bequemer hin und las die privaten Gedanken eines Mannes aus der Zeit der Belle Époque.
Da der Professor nicht verheiratet war und anscheinend nicht viele Freunde in Paris hatte, lud er Lescot manchmal zu Veranstaltungen ein. Tatsächlich schwärmte der Assistent auch noch sieben Jahre später von der großartigen Weltausstellung von 1900, als sie die vielen Pavillons auf dem Marsfeld, das große Riesenrad und den Eiffelturm besucht hatten. Er war seitdem noch öfter auf den Eiffelturm gestiegen, um die wunderbare Aussicht auf die Stadt zu genießen.
Diesmal leistete er Bernhardt jedoch bei einer anderen Gelegenheit Gesellschaft.
Montag, 9.9.1907
Gestern nahm Bernhardt mich zu einer Kunstausstellung im Salon d’ Automne mit, deren Cézanne-Bilder zurzeit erhebliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die berühmtesten Kunstkenner Europas strömen allein dieser Ausstellung wegen nach Paris, und man hört, dass selbst Meier-Graefe und Graf Harry Kessler seit gestern in der Stadt sein sollen. Doch schienen sie zu dem Zeitpunkt unseres Eintreffens nicht anwesend zu sein, so sehr wir auch nach ihnen Ausschau hielten. Stattdessen trafen wir Prof. Messier, der Bernhardt sofort in Beschlag nahm und mit ihm mehrere Themen zu besprechen begann. Ich zog mich dezent zurück und spazierte durch die Räume, aber es waren weniger die interessanten Bilder des Salons, die mich faszinierten, als vielmehr die Menschen um mich herum. Überall standen kleine Dreier- und Vierergruppen, die über die grandiose Bildaufteilung philosophierten, wobei man nicht erkennen konnte, wer Sachverstand und wer nur eine große Fantasie hatte. Ich bemerkte einen Mann, der ebenfalls mehr der Menschenmenge Beachtung schenkte als den Bildern und ein wenig abseits neben der Eingangstür stand. Im nächsten Moment trafen sich unsere Blicke, und ich ging zu ihm. Er hatte ungefähr meine Größe, war schlank, gut gekleidet, hatte große Augen und sah irgendwie leidend aus. Als wir ins Gespräch kamen, musste ich mit Erstaunen feststellen, dass es sich um Rilke, den ehemaligen Privatsekretär des großen Auguste Rodin, handelte.
Karen zuckte zusammen. »Er hat Rilke getroffen!«, rief sie verblüfft. Mansfield sah von seinem Buch auf. »Wie bitte?«
»Rainer Maria Rilke!« Mansfield überlegte kurz. »War das nicht ein deutscher Lyriker?«
Karen nickte. Mit einem Lächeln dachte sie an Rilkes Panther-Gedicht, das sie so sehr liebte und das hier in Paris entstanden war. Jetzt hatte sie das Buch eines Menschen in der Hand, der Rilke persönlich begegnet war. Es war wunderbar.
Mansfield beobachtete, wie Karens Fingerspitzen gedankenvoll über das alte Papier glitten, während sie weiter las und jedes einzelne Wort genoss.
Meine Neugierde war leider zügellos. So wagte ich Fragen über Rodin zu stellen, die er mit gekonnten Worten höflich und konsequent abwies. Die Lehre tat mir wohl gut. Wir plauderten stattdessen zwanglos über die Besucher des Salons und das phänomenale Kunstverständnis einiger. Dann kam Bernhardt auf uns zu, und ich stellte sie einander vor. Bernhardt war sehr erfreut, ein paar Worte deutsch mit ihm reden zu können, aber da sie mir gegenüber nicht unhöflich sein wollten, führten sie das Gespräch bald wieder auf Französisch fort. Rilke verabschiedete sich kurze Zeit später, während wir noch etwa eine Stunde blieben.
Karen blätterte die Seite um und las wieder einige Einträge, in denen er von Problemen mit den Studenten berichtete, aber dann fand sie eine Notiz, die ihre volle Aufmerksamkeit forderte.
Donnerstag, 12.9.1907
Bernhardt kam heute Abend unerwartet bei mir vorbei. Nach meiner ersten Überraschung bot ich ihm meinen besten Sessel und ein Glas Burgunder an, doch er lehnte den Wein dankend ab, da er von Burgunder immer Kopfschmerzen bekomme. Ein Glas Wasser genügte ihm. Er fragte, ob ich bereits die beiden Bücher für ihn besorgt hätte, um die er mich gebeten habe. Ich wunderte mich, dass er deswegen extra zu mir kam, denn ich hätte ihm die Bücher morgen gebracht. Aber er schien es eilig zu haben. Er wollte darin etwas nachprüfen, hatte er gesagt, und mich gestern damit beauftragt, sie aus
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