Das weiße Amulett
hielten mir die Überreste von Bernhardts zerbrochenem Gehstock entgegen. Es hatte wohl jemand mit angesehen, wie ich ihn am Tag des Streits in einem Wutanfall gegen die Flurwand geschleudert und dabei irgendwelche wüste Verwünschungen gegen Bernhardt ausgestoßen hatte. Die Polizei vermutet allmählich ein Kapitalverbrechen, weil der Professor nicht bei seiner Schwester in Frankfurt aufgetaucht ist und sich auch nicht bei ihr gemeldet hat. So kam es, dass man mich verhaftete und mich drei Tage und Nächte lang festhielt. Sie verhörten mich mehrmals, aber da ich ihnen immer wieder das Gleiche antwortete und es sich laut Polizeiakte nicht um Mord, sondern nur um einen Vermisstenfall handelte, ließen sie mich heute wieder frei. Vorher kehrten sie in meiner Wohnung alles von zuunterst nach zuoberst. Ich weiß nicht, was sie zu finden hofften – ein blutbeschmiertes Messer, eine Axt, einen Revolver? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ließen sie mich wieder frei. Aber was war das für eine Freiheit, in die sie mich entließen?
Die Handschrift wurde immer unleserlicher.
War es bereits ein unaussprechlich schreckliches Gefühl, von der Polizei für einen Mörder gehalten und so behandelt zu werden, so war dies doch noch eher zu ertragen als der Verdacht meiner Kollegen und der Professoren. Sie wenden sich von mir ab. Sie meiden mich, als hätte ich ein großes Brandmal »Mörder« auf der Stirn. Dass die anderen sich so verhalten, war mir schon eine schreckliche Erfahrung genug, dass aber auch Javillier sich von mir abwandte und nicht mehr zu mir hielt, traf mich schwer. Es gibt nicht einen, der zu mir steht. Nicht einer, der auch nur mit mir gesehen werden will. Ich bin aussätzig.
Mansfield schloss das Buch, legte es auf den Tisch, und sah durchs Fenster zum hellblauen Himmel hinaus. Mechanisch griff er nach seinem Drink, aber anstatt ihn zu trinken, schwenkte er das Glas nur hin und her. »Sie haben sich also im Streit getrennt«, murmelte er. »Und sich dann nie wieder gesehen«, sagte Karen. »Wie weit sind Sie?«
»An der Stelle, wo sich alle von Lescot abwenden.«
»Dann lesen Sie noch weiter.« Mansfield nahm das Buch wieder zur Hand.
Montag, 14.10.1907
Bernhardt ist nun schon seit fast einem Monat verschwunden. Auch bei seiner Schwester hat er sich noch nicht gemeldet.
Sonntag, 15.12.1907
Zwei Monate, ohne eine Wort, ohne ein Lebenszeichen. Ich glaube nun wirklich, dass Bernhardt tot ist, sonst hätte er sich bei irgendjemandem gemeldet. Auch eine Entführung scheint nicht logisch. Er ist tot, ich fühle es. Verdammt! Ob es etwas mit dem alten ägyptischen Amulett zu tun hat? Bringt es dem Menschen, der es trägt, Unglück? Oder ist alles meine Schuld, weil ich damals zu spät nach Hause gekommen bin? Vielleicht wäre Bernhardt noch am Leben. Gebe Gott, dass ich nicht schuld bin an seinem Tod!
Mansfield atmete tief durch und las den nächsten Eintrag.
Freitag, 20.12.1907
Ich erhielt heute einen Brief von der Sorbonne, in dem man mir mitteilte, dass die Forschungsreihe wegen des Verschwindens von Prof. Bernhardt nicht mehr weitergeführt werden kann. Man hat mir nahe gelegt, an die Universität von Aix zu wechseln, da dort ähnliche Forschungen durchgeführt werden. Sie schicken mich fort! Alles, was ich mir in diesem Leben erhofft habe, war eine Laufbahn an der Sorbonne. Es war mein Ein und Alles, und jetzt ist es vorbei. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin am Ende! Bernhardt hat mein Leben zerstört.
Mansfield blätterte die restlichen Seiten um, aber sie waren leer.
»Merkwürdig«, sagte er, »es gibt keine weiteren Einträge. Die Aufzeichnungen enden hier in Paris. Oder gibt es ein zweites Tagebuch?«
Karen schüttelte den Kopf. »Nein, es sind seine letzten Aufzeichnungen. Er starb am nächsten Tag bei einem Eisenbahnunglück im Gare d’Orsay.«
»Woher wissen Sie das?«
»Es steht in Laurents Seminarnotiz.«
»Mein Gott, was für ein schrecklicher Tod.«
»Ja«, stimmte Karen ihm zu und blickte geistesabwesend auf den Band in seiner Hand. »Aber was geschah mit dem Professor?«
Mansfield sah sie an, war jedoch mit seinen Gedanken weder bei ihr noch beim Professor. Nach einer Weile fragte er: »Dieses Amulett, was bedeutet es?«
»Der Djed-Pfeiler ist ein Zeichen der Erneuerung, ein Zeichen für Dauer, Stabilität und Ewigkeit«, antwortete sie und spielte dabei unbewusst mit ihrer Maat-Kette, als das Handy klingelte. Auf dem Display war diesmal nicht zu erkennen, wer sie
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