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Das weiße Amulett

Das weiße Amulett

Titel: Das weiße Amulett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathinka Wantula
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dem Lift stand und seinen Kragen zurechtrückte, hatte er das Gefühl, gewonnen zu haben. Mansfield würde früher oder später einen Fehler machen, da war er sich ganz sicher.

24
    Karen bemerkte Mansfields Wut nicht, als er ins Zimmer zurückkam, da sie schon in dem Tagebuch las.
    Missmutig ging er zur Bar und mixte sich einen Drink, den er in einem Zug hinunterstürzte. Dann machte er sich einen zweiten, ging damit zur Couch, setzte sich und beobachtete Karen beim Lesen. Nach einer Weile wanderte sein Blick zu dem Couchtisch, auf dem sein Buch über Alexander den Großen lag. Er zögerte kurz, dann griff er nach dem Band und versuchte sich mit Lesen abzulenken.
    Karen war gerade auf Eintragungen gestoßen, in denen Lescot Probleme mit seiner Vermieterin andeutete. Sie führten dazu, dass er in das Quartier Latin in die 42, Rue de Limoges umzog.
    Montag, 2.9.1907
    Ich fühle mich hier recht wohl. Besser als bei Madame Clouet, die mit ihren Vorschriften alle Hausbewohner bis aufs Blut gequält hat. Es wundert mich keinesfalls, dass man ihr vor kurzem ein Fenster zerschmissen hat. In diesem Haus lebt es sich einfacher. Die Nachbarn sind ruhig und freundlich, wie mir scheint, und die Galerie Venise ist mit Roquette, einem guten Herrenschneider, bequem zu Fuß erreichbar. Hier haben viele Häuser kleine Vorgärten mit frisch gestrichenen Eisenzäunen, deren goldene Spitzen hell in der Sonne blitzen. Ja, es gefällt mir hier sehr.
    Es folgten einige Bemerkungen über seine studentischen Kollegen an der Sorbonne, die ihn und seine Arbeit immer missgünstig beäugten. Eifersucht und Neid schienen im Spiel zu sein, da der Professor Lescot oft bevorzugte, was Karen allerdings normal erschien. Wenn sie den Notizen glauben schenken konnte, arbeiteten Lescot und der Professor schon seit sieben Jahren eng zusammen. Trotzdem schien das Verhältnis zu Bernhardt Schwankungen zwischen väterlicher Freundschaft und menschlicher Distanz ausgesetzt gewesen zu sein, die Lescot nicht immer nachvollziehen konnte.
    Mittwoch, 4.9.1907
    Bernhardt hat uns nicht die Wahrheit gesagt. Es war gar kein Gichtanfall, der ihn in den letzten Tagen einen Gehstock nehmen ließ. Vielmehr griff er aus Eitelkeit zu dieser Notlüge. Javillier erzählte mir von dem kleinen Missgeschick des Professors, das ihn am Samstag auf der großen Treppe der Oper ereilte. Obwohl es meines Erachtens nur eine Kleinigkeit war, muss es ihm äußerst peinlich gewesen sein. Er ist auf einer der Marmorstufen der großen Treppe abgerutscht und brachte eine Dame neben sich zu Fall. Die Dame wurde glücklicherweise von jemand anderem aufgefangen, nicht aber unser guter Professor. Javillier berichtete, er habe sich seine Hose ruiniert und soll mit hochrotem Kopf und humpelnd die Oper verlassen haben. Seitdem war der goldverzierte Gehstock sein Begleiter, und Bernhardt erzählte aller Welt von seinem plötzlichen Gichtanfall. Ich fragte Javillier, woher er derart genau Bescheid wisse, und er verriet mir, dass sein Vater nur wenige Meter hinter Bernhardt gegangen sei und der Carambolage nur knapp entgehen konnte. Ich kann verstehen, dass Bernhardt seinen Studenten nichts von diesem Malheur erzählen wollte, aber sie anzulügen war auch nicht sehr klug. Manchmal ist er ein Narr. In Paris sind die Wege kurz und die Augen und Ohren immer offen. Was in der Opéra Garnier geschieht, ist noch am selben Abend in aller Munde. Demnach war es zu erwarten, dass wir früher oder später davon erfahren würden. Es bedrückt mich nur, dass er auch mir nicht die Wahrheit gesagt hat. Wann wird er endlich lernen, mir zu vertrauen?
    Karen runzelte die Stirn. Das Verhältnis zwischen dem Professor und seinem Assistenten kam ihr durchaus bekannt vor. Bernhardt schien ein launischer Mensch gewesen zu sein, der offenbar niemandem vertraute außer sich selbst. Trotzdem hatte er Lescot für kurze Zeit die Aufsicht über ein wichtiges Experiment gegeben. Aber war dies aus Vertrauen oder aus einer Notsituation heraus geschehen? Auf jeden Fall war dieses Tagebuch vor dem Verschwinden des Professors geschrieben worden. Karen hoffte inständig, dass die Eintragungen auch darüber Auskunft geben würden.
    Auf den nächsten Seiten fand sie diverse chemische Strukturformeln skizziert und einige Kurzberichte über die Arbeit des Laboranten, von dem sie kein einziges Wort verstand.
    Julius, du Schuft!, dachte sie mit leisem Seufzen und stützte den Kopf in die linke Hand. Du wirst mich nie wieder dazu bringen, eine

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