Das weiße Amulett
verdunstete vor meinen Augen. Ich schaute zu Bernhardt auf und sah reinste Fassungslosigkeit, ja, fast Verzweiflung. »Was haben Sie getan«, wiederholte er nur immer wieder und fasste sich an den Kopf. Er bezeichnete mich als Wahnsinnigen und blickte auf die wenigen verbliebenen Tropfen hinab. Ich sagte, dass es mir Leid tue, aber er ließ mich nicht weiter zu Wort kommen. »Leid?«, schrie er, und seine Worte hallten im Labor wider. »Ich habe Ihnen das wichtigste Forschungsprojekt meines Lebens anvertraut, und Sie sagen, dass es Ihnen Leid tut? Bei Gott, es wird Ihnen noch richtig Leid tun. Gehen Sie. Gehen Sie, und kommen Sie nie wieder! Ich will Sie nicht mehr sehen!«, schrie er und marschierte ohne ein weiteres Wort in sein Privatlabor. Ich schluckte und sah mich um, aber alle Studenten waren auf einmal in Gespräche vertieft. Niemand achtete auf mich. Ich war Luft für sie. Ich blickte auf die zerschmetterte Phiole hinab und sah auf mein zerschmettertes Leben. Sieben Jahre intensive Zusammenarbeit und ein beinah freundschaftliches privates Verhältnis zu Bernhardt lagen vor mir – zerstört. Und niemand, nicht einmal Javillier, kam zu mir, um mir beizustehen. Diese verdammten Hunde! Ich wurde wütend, warf meinen Kittel achtlos auf einen Tisch, wo ein Bunsenbrenner ihn in Feuer setzte, und auf einmal kam doch wieder Leben in die Studenten, als sie versuchten das Feuer zu löschen. Aber das interessierte mich nicht mehr. Meine Wut und Enttäuschung ist grenzenlos.
Karen las noch die letzten Seiten zu Ende, dann klappte sie das Tagebuch zu und hielt es nachdenklich in den Händen.
Mansfield bemerkte es und legte seinen Geschichtsband weg.
»Darf ich es auch lesen?« Er streckte seine Hand danach aus. Karen reichte es ihm. Für wenige Sekunden berührten sich ihre Finger über dem Buch, und beide sahen sich irritiert an, weil ein Vibrieren sie durchdrang. Doch im nächsten Moment ließ Karen das Buch los, und der Zauber zerbrach.
Mansfield versuchte seine Verwirrung zu überspielen, indem er das alte Buch mit dem eingearbeiteten Gummiband und dem Lesefaden betrachtete.
»Ein Moleskin«, sagte er anerkennend und besah sich das Buch von allen Seiten.
Karen strich sich über die Arme, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte. »Ein Moleskin? Was ist das? Ist das etwas Besonderes?«
Mansfield fuhr mit dem Finger über den gewachsten Baumwolleinband.
»Van Gogh hat so eins benutzt. Und Hemingway. Die Bücher waren sehr beliebt, weil sie durch das kleine Format und das eingearbeitete Gummiband sehr praktisch waren.«
Er öffnete es und begann die verblichene braune Schrift zu lesen. In der nächsten Stunde wurde sein Gesicht immer ernster, während Karen in den Unterlagen der blauen Mappe weiterlas. Mansfield war inzwischen an dem Tag angelangt, an dem der Professor anscheinend verschwunden war.
Dienstag, 17.9.1907
Gestern fand ich ein kleines Papier an meiner Haustür, auf dem »Morgen früh, 10.00 Uhr, Café Lenoir, B.« notiert war. Anscheinend ist Bernhardt gestern Abend bei mir gewesen. Was will er noch von mir? Ich habe versucht ihn telefonisch zu erreichen, aber der Concierge der Pension teilte mir mit, dass Bernhardt nicht in seinem Zimmer sei.
Mansfields Gesichtszüge verhärteten sich.
Um 10 Uhr saß ich im Café Lenoir, aber obwohl ich über eine Stunde wartete, ist Bernhardt nicht erschienen. Ich ging zur Sorbonne, doch auch dort war er noch nicht gesehen worden. Javillier trat neben mich und fragte, ob ich wisse, wo er sei, denn er hatte um elf Uhr einen Termin mit Monsieur Messier vereinbart. Ich sah auf die Uhr, die Viertel vor zwölf zeigte. Javillier und ich waren ratlos. Bernhardt war zu dieser Zeit immer in der Universität anzutreffen. Obwohl er mir seit dem gestrigen Vorfall eigentlich einerlei sein sollte, ging ich zu seiner Pension. Aber dort hatte man ihn seit gestern Mittag nicht mehr gesehen. Allmählich wurde mir unbehaglich. Ich kehrte noch mal zur Sorbonne zurück, doch er war dort noch immer nicht erschienen. Ich versuchte mich zu beruhigen und ging wieder nach Hause. Aber die Unruhe schwand nicht, im Gegenteil, sie steigerte sich. Ich wusste, dass es gegen sein Naturell war, ohne Nachricht von der Universität fernzubleiben, und auch dass er unsere Verabredung nicht eingehalten hatte, widersprach seinem üblichen Verhalten. Ich befürchte, dass ihm etwas zugestoßen ist.
Samstag, 21.9.1907
Vor drei Tagen standen unerwartet zwei Polizeibedienstete vor meiner Tür und
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