Das weiße Grab
Hvidt. Auch sie war gefesselt.
Andreas Falkenborg stand lange da und beobachtete sie durch seine Maske. Pauline Berg konnte Jeanette Hvidt hören. Sie kämpfte mit den Tränen und schluchzte leise. Pauline dachte, dass es trotz der Hoffnungslosigkeit der Situation von entscheidender Bedeutung war, keine Angst zu zeigen. Trotzdem wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Ihr fiel einfach nichts Vernünftiges ein. Plötzlich sagte Jeanette Hvidt: »Will er nicht bloß die Polizistin umbringen? Ich tue auch, was er sagt, immer. Ich tue immer, um was er mich bittet.«
Jeanette Hvidts Worte klangen überraschend klar, und Pauline Berg wusste, dass sie recht hatte. Natürlich, dieses Grab konnte kaum für sie beide gedacht sein, dafür war es viel zu klein. Sie registrierte auch die Art, wie das Mädchen mit Falkenborg redete, und die fehlende Solidarität, die sie ihr vielleicht nicht vorwerfen sollte, es im Stillen aber doch tat.
Sie sagte neutral: »Könnte ich etwas Wasser bekommen?«
Andreas Falkenborg stürzte sich wie ein Falke auf sie: »Sie sagt: Würde er ihr etwas Wasser geben?«
»Wenn ich schon als Erste sterben soll, dann bitte. Aber ich habe Durst. Können Sie mir nicht etwas zu trinken geben? Ich brauche wirklich etwas Flüssigkeit. Warum lassen Sie mich so leiden, das ist doch sonst nicht Ihr Stil?«
Sie achtete darauf, ihn nicht zu provozieren. Sie wusste ganz genau, dass er ihnen beiden einen grausamen Tod zugedacht hatte, die Frage war nur, wann und in welcher Reihenfolge. Auf der anderen Seite war Andreas Falkenborg kein Sadist. Er würde ihr zur Steigerung seiner Lust keine unnötigen Schmerzen zufügen.
Er antwortete ihr wütend.
»Sie spricht verkehrt, sie bekommt kein Wasser.«
Sie dachte kurz nach und fügte sich: »Würde er mir einen Schluck Wasser geben, ich bin sehr durstig.«
Andreas Falkenborg dachte nach und rückte seine Maske zurecht. Sie musste mit all dem Stoff an der Seite und der begrenzten Luftzufuhr sicher warm und unangenehm zu tragen sein.
Schließlich sagte er: »Sie soll noch einmal darum bitten.«
»Würde er mir einen Schluck Wasser geben?«
»Sie kann Wasser bekommen, aber sie muss warten.«
Er verließ den Raum, und noch bevor die schwere Stahltür hinter ihm ins Schloss fiel, erblickte sie einen Kellerflur. Doch was nützte ihr diese Information?
Als er weg war, flüsterte Jeanette Hvidt ihr zu: »Sie dürfen ihm nichts Böses sagen, sonst kriegen wir es mit dem Stock, das ist schrecklich.«
Pauline Berg erinnerte sich an den Stock sowohl von dem Video auf ihrem Computer, als auch dass ihr Andreas Falkenborg in ihrem Arbeitszimmer damit gedroht hatte.
»Was ist das für ein Stock, von dem er redet?«
»Er sticht einen damit, und das tut verflucht weh.«
»Ein Elektro-Schocker? Ist das so ein Ding, wie man es für Kühe benutzt?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube aber nicht. Dieser Stock ist grausam, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie grausam.«
»Ich sehe keinen Stock.«
»Er hat ihn nicht hier …«
Die Tür wurde wieder geöffnet, und Jeanette Hvidt verstummte schlagartig. Andreas Falkenborg kam mit einer Kanne Wasser zurück und stellte sich vor Pauline Berg.
»Sie öffnet ihren hässlichen Mund.«
Sie öffnete den Mund und legte den Kopf in den Nacken. Vorsichtig goss er ihr etwas Wasser in den Mund und machte immer wieder kurze Pausen, damit sie atmen konnte. Sie trank begierig, ohne dabei an Jeanette Hvidt zu denken. Erst als sie nichts mehr trinken konnte und die Kanne fast leer war, fragte sie: »Will er den Rest nicht Jeanette geben?«
Andreas Falkenborg goss die restlichen Tropfen in Jeanette Hvidts Mund, stellte die Kanne auf den Boden und sagte: »Er wird ein Los ziehen, um zu bestimmen, wer zuerst in die Tüte kommt. So wünscht er sich das.«
»Kann er sagen, wann das geschehen wird?«, fragte sie schnell.
»Morgen kommt die Erste in die Tüte. Morgen, wenn er den Zement für ihr Grab hat.«
»Und die andere, was macht er mit der anderen?«
»Die kommt dann auch in die Tüte. So macht er das, ja. Beide sollen in die Tüte, erst die eine, dann die andere. Die andere kriegt dann richtig Angst.«
Er rückte wieder seine Maske zurecht und rezitierte einen Kinderreim, wobei er vorsichtig die Knie der beiden Frauen berührte.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, eine alte Frau kocht …«
Sie unterbrach ihn höhnisch: »Könnten Sie es bitte sein lassen, mir an den Schenkel zu fassen, Sie alter Drecksack. Sagen Sie
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