Das weiße Grab
Gegenstände beiseite. Die Comtesse war äußerst enttäuscht: »War das alles?«
»Ja, Sie sollten nach einer weißen Kapelle oder Krypta suchen. Da sind die zwei Frauen.«
»Warum haben Sie aufgehört?«
»Dieser Mann bringt uns nicht weiter. Der kann uns nicht helfen.«
Die Comtesse machte eine resignierte Geste und stellte der Madame danach noch eine Reihe vertiefender Fragen, um etwas mehr über ihre geheimnisvolle weiße Kapelle zu erfahren. Die Ausbeute war mager. In Ermangelung besserer Möglichkeiten kam sie noch einmal auf den Mann zu sprechen, der die anderen Geister vertrieben zu haben schien.
»Warum bringt er uns nicht weiter?«
Die Frau starrte vor sich hin und ließ ihren Blick auf und ab gleiten, als betrachtete sie sich im Spiegel.
»Er ist böse.«
»Ist er denn noch immer da? Oder wie man das nennt?«
»Ja, und mit ihm kriege ich mit Sicherheit Schwierigkeiten, der lässt sich nicht einfach so wegschieben.«
»Könnten Sie nicht trotzdem versuchen, mit ihm zu reden … oder zu hören, was er zu sagen hat?«
»Doch, wenn Sie das wollen. Aber das bringt bestimmt nichts.«
Dieses Mal begnügte sie sich damit, die Gegenstände flüchtig zu berühren. Sie schwieg eine Weile, bevor sie sagte: »Er hat ein Gedicht aufgesagt. Ein Schmähgedicht … oder wie man das nennt. So einen hasserfüllten, blöden Spottgesang, wahrscheinlich war er selbst damit gemeint. Das alles war nur schwer zu verstehen, altmodisch und in einer Fremdsprache. Irgendetwas über einen Politiker, der eine Prostituierte gerettet hat, der Rest klang irgendwie wie bei den
Zehn kleinen Negerlein.
Er hat aber jemanden umgebracht, so viel ist sicher. Nein, hören wir hier lieber auf.«
»Auf keinen Fall, reden Sie weiter.«
Die Frau nahm einen Kugelschreiber und einen Block vom Couchtisch hinter sich und begann zu schreiben. Als sie fertig war, sagte sie definitiv: »So, jetzt ist aber Schluss.«
»Was steht da?«
»Ein Reim, das sind die letzten vier Zeilen seines Gedichts, umgeschrieben oder übersetzt, das habe ich nicht herausgefunden. Kann es sein, dass er gerne wieder in die Zeitung will?«
»Ein Gedicht, für wen?«
»Für Sie, aber ich finde, Sie sollten das nicht lesen. Das schadet Ihnen nur.«
Die Comtesse ignorierte die Warnung und streckte ihre Hand nach dem Block aus. Sie bekam ihn ohne weitere Einwände und las:
Zwei kleine Mädchen, oh, wie sind sie bang,
das Kind im Staub, es lacht; ist stolz auf seinen Fang.
Ein Mädchen in den Sack, da war es nur noch eins.
Das andere bleibt, stirbt lockenlos,
nur Haut und Knochen gleich
und ist doch meins …
Die Widerwärtigkeit dieser Zeilen traf die Comtesse ohne Gnade, und ein paar Sekunden lang rang sie richtiggehend nach Atem. Schon bald hatte sie sich aber wieder so weit im Griff, dass sie sich die fast tonlose Belehrung der Madame anhören konnte: »Sie sind starrsinnig, das sind die Adeligen gerne. Jetzt ernten Sie, was Sie gesät haben. Aber andere Male kann dieser Starrsinn auch von Vorteil sein, das werden Sie heute Abend erleben.«
Die Fahrt von Høje Taastrup nach Søllerød tat der Comtesse gut. Ihre Begegnung mit der Metaphysik war ein zweifelhaftes Vergnügen gewesen, und sie war froh, als sie das seltsame Ehepaar verlassen konnte. Dazu kam, dass die konkrete Ausbeute der Séance aus ermittlungstechnischer Sicht gelinde gesagt bescheiden war. Sie rief Konrad Simonsen an, und da er nicht ans Telefon ging, hinterließ sie ihm eine Nachricht über die weiße Kapelle der Madame auf dem Anrufbeantworter. Irgendwie war sie froh darüber, dass nun nicht mehr sie entscheiden musste, ob sie diese Informationen ernst nehmen sollten oder nicht. Den Rest der Strecke versuchte sie, all das, was sie erlebt hatte, abzuschütteln und sich von Bob Marley in voller Lautstärke den Kopf freiblasen zu lassen.
Zu Hause leerte sie den Briefkasten und warf die Werbung direkt in den Mülleimer, bevor sie ins Haus ging.
Den Rest, drei Briefe und ein Päckchen, legte sie drinnen auf den Küchentisch, kochte Kaffee, goss die Blumen und packte schnell ein paar Sachen für Konrad und sich zusammen. Nachdem sie die Tasche im Kofferraum ihres Autos verstaut hatte, ging sie zurück in die Küche. Die Kaffeemaschine gurgelte noch immer, und ihr wurde schmerzlich bewusst, dass sie die Maschine endlich entkalken musste, wollte sie keine neue kaufen müssen. Um die Wartezeit zu überbrücken, blätterte sie ohne großes Engagement durch die Post.
Der oberste Brief war ein
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