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Das weiße Grab

Das weiße Grab

Titel: Das weiße Grab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lotte Hammer , Søren Hammer
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es bis zu ihr. Die Hexe ist direkt hinter ihm. Er hört sie keuchen und riecht ihren giftigen Atem. Endlich, endlich erreicht er seine Mutter, wirft sich in ihre Arme und vergräbt sein Gesicht in ihrem Rock. Tränen der Erleichterung kullern aus seinen Augen, als er spürt, wie sie schützend ihre Arme um ihn legt.
    Dann beginnt der wahre Alptraum.
    Er blickt nach oben, aber da ist nicht das Gesicht seiner Mutter, sondern das Gesicht der Hexe.

    Solange Arne Pedersen zurückdenken konnte, hatte er unter Alpträumen gelitten. Es war immer der gleiche Traum, immer das gleiche Resultat, nämlich dass er schweißgebadet aufwachte und mit einer Angst im Körper, die zu verarbeiten er die ganze Nacht brauchte. In seiner Kindheit war das oft geschehen, in der schlimmsten Zeit sicher ein- bis zweimal pro Woche. Als Erwachsener geschah es nur noch selten. Zwischen den Alpträumen lagen jetzt bis zu sechs Monate, genug Zeit, damit er die Geschehnisse verdrängte, bis sie eines Nachts wieder da waren. Wie eine Grippe, nur dass diese Träume schneller überstanden waren. Einen weiteren Einfluss auf sein Leben hatten die wiederkehrenden Alpträume deshalb nicht, und er beschäftigte sich auch nicht sonderlich damit. Es war ein angeborenes Leiden, eine Marotte, mehr musste darüber nicht gesagt werden. Seine Mutter hatte es
den bösen Traum
genannt. Seine Frau sprach nur von
das:
Mein Gott, hast du
das
schon wieder gehabt? Sie war aber immer so hilfsbereit und stand mit ihm auf und kochte ihm einen Kamillentee, bevor sie wieder ins Bett ging. Er wünschte sich, sie würde das nicht tun.

    Jetzt wachte er zum dritten Mal hintereinander außer sich vor Angst auf. So etwas war noch nie zuvor passiert. Weder als Kind noch als Erwachsener. Seine Frau stellte ihm besorgt den Kamillentee auf den Tisch und fragte ihn vorsichtig: »Arne, stimmt denn etwas nicht? Bedrückt dich etwas?«
    Er schüttelte den Kopf. Es war alles in Ordnung.
    »Wenn das so weitergeht, musst du mal zum Arzt gehen.«
    Sie hatte recht. Er bekäme ja kaum noch Schlaf, und so könne das nicht weitergehen, betonte sie mitunter in ihrer altklugen Art. Als wüsste er das nicht selbst. Er sagte nichts, und als sie kurz darauf zurück ins Bett ging, kippte er den Kamillentee ins Spülbecken und goss sich einen Cognac ein. Ein bisschen, nicht viel – denn auch der würde nicht helfen. Er massierte sich mit den Handflächen die Schläfen und murmelte vor sich hin: »Ich bringe den um.«
    Und kurz darauf: »Ich schwöre, ich bringe den um.«
    Dann schaltete er den Fernseher ein, drehte die Lautstärke herunter und bereitete sich auf eine weitere schlaflose Nacht vor.
    Es war schon eine Ironie des Schicksals. Als kleiner Junge hatte er seiner Mutter nichts von seinen Alpträumen erzählen können. Jedenfalls nicht alles. Und heute, mit seiner Frau an seiner Seite, war es genau das Gleiche.
    Der Traum war nämlich nicht mehr so wie früher. Er hatte sich verändert, und in dem grünen Licht war heute noch etwas, das viel schlimmer als jede Hexe war.

[home]
    20
    U nter normalen Umständen war Arne Pedersen einer der wenigen Männer bei der dänischen Polizei, der sich mental auf Multitasking verstand, was ihm besonders bei langweiligen Sitzungen immer wieder zugutekam. Die heutige Besprechung im Präsidium entsprach aber nicht der Norm, da er mehr als genug damit zu tun hatte, sich schon auf das eine Thema zu konzentrieren. Er war todmüde, und kleine Lichtblitze explodierten fortwährend in der Peripherie seines Blickfelds. Was ihn aber besonders belastete, war das Gefühl, dass sein Gehirn auf eine unangenehme und nicht zu kontrollierende Weise schneller funktionierte als normal. Poul Troulsen trank bereits seine dritte Tasse Kaffee und sah auch nicht gerade frisch aus. Pauline Berg hingegen schien geradewegs der Reklametafel einer Sporthochschule entstiegen zu sein. Auch Konrad Simonsen wirkte fit, obgleich das für ihn bereits die zweite Sitzung des Tages war. Die Comtesse zog es vor, nachträglich informiert zu werden, damit sie ihren Zahnarzttermin nicht immer wieder verschieben musste.
    Der Psychologe, oder Profiler, wie er sich selbst nannte, war neu und brauchte offensichtlich eine solide Portion Eigenwerbung, bevor er mit seinem Durchgang begann. Er saß hinter zwei beträchtlichen Stapeln Papier am Ende des Tisches und listete unsicher seine wissenschaftliche Karriere auf, wobei er besonderen Wert darauf legte, welche Artikel er mit wem geschrieben hatte und wo

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