Das weiße Grab
die Aussage der Zeugin kurz zu diskutieren, doch Konrad Simonsen nutzte diese Gelegenheit nicht. Als er in aller Eile von Kopenhagen aufgebrochen war, hatte er die Marschverpflegung vergessen, die die Comtesse ihm am Morgen mitgegeben hatte, so dass er nun sehr hungrig war. Trotzdem ignorierte er standhaft eine Würstchenbude, deren verlockender Duft nach gegrillten Hotdogs ihn noch lange zu verfolgen schien. Mürrisch sagte er: »Ich denke, dass wir beide noch ein bisschen Zeit brauchen, damit all diese Informationen sich setzen können. So geht es mir jedenfalls. Schreibst du einen Bericht? Am besten noch bevor du nach Hause gehst.«
»Kein Problem, das wird schon gehen.«
»Wunderbar. Wenn du fertig bist, mailst du eine Kopie davon an unseren neuen Psychologen. Mit einem roten Ausrufungszeichen, wenn du weißt, wie das geht. Ich kriege das nie hin.«
»Ich rufe ihn an und sage ihm, dass die Informationen sehr wichtig sind. Das ist sicherer.«
Konrad Simonsen blieb an einer Bank stehen und setzte sich. Zielsicher fand er seine Zigaretten und zündete sich eine an. Es war die dritte an diesem Tag, und sie schmeckte fürchterlich. Arne Pedersen setzte sich neben ihn, ohne die Schwäche seines Chefs zu kommentieren.
»Wie geht es eigentlich Kaspar Planck«, fragte er nach einer Weile.
»Schlecht«, antwortete Konrad Simonsen.
»Ist er wirklich in ein Pflegeheim gekommen?«
»Schon vor Monaten.«
»Und wie schlecht geht es ihm?«
»Schlecht, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Mann stirbt bald, das ist nur noch eine Frage der Zeit.«
Er inhalierte gierig und spürte, wie der Rauch trotz des miesen Geschmacks seiner Laune auf die Sprünge half. Versöhnlich fügte er hinzu: »Ich war letzte Woche bei ihm draußen. Er hat mich kaum noch erkannt, und in den wenigen Minuten, in denen er klar war, redeten wir fast nur darüber, wie die Leute ihn wohl in Erinnerung behalten würden, wenn er nicht mehr da wäre. Das war nicht gerade aufmunternd.«
»Hm, klingt wirklich nicht so gut, aber toll, dass du ihn besucht hast.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob das für ihn überhaupt einen Unterschied macht. Aber schlimm, was die Schwester mir hinterher gesagt hat. Die meinte nämlich, dass dieser Zustand noch eine ganze Weile andauern könnte. Wie lange, wollte sie mir aber nicht sagen.«
Sie blieben schweigend sitzen. Konrad Simonsen fühlte sich ziemlich kraftlos, so dass ihm die Rückfahrt beinahe unerträglich erschien. Er zündete sich an der heruntergebrannten Zigarette eine neue an, die besser schmeckte und die Müdigkeit ein wenig verdrängte. Arne Pedersen blickte besorgt zu seinem Chef hinüber, wendete seinen Blick aber rasch wieder ab, als er dessen trotzigen Gesichtsausdruck bemerkte.
»Du siehst auch nicht gerade gut aus. Bist du gestresst?«, brummte Konrad Simonsen.
»Nein, ich konnte nur letzte Nacht nicht richtig schlafen. Das kommt hin und wieder vor. Es gibt da eine Sache, die mir in der letzten Zeit häufig durch den Kopf gegangen ist. Konrad, du kannst natürlich nein sagen, wenn du das blöd findest, aber ich habe gedacht … ich meine, ich könnte verstehen, wenn du das nicht willst …«
»Denk dran, wenn wir noch lange hier sitzen, schlagen wir Wurzeln.«
»Okay, ich habe mich gefragt, ob du mit mir Schach spielen willst.«
Das Thema war delikat, denn Konrad Simonsen hatte jahrelang mit Kaspar Planck Schach gespielt.
Konrad Simonsen antwortete nicht sofort. Widerstrebende Gefühle kämpften in ihm, aber die Neugier gewann schließlich die Oberhand: »Wie spielst du?«
»Das weiß ich nicht. Gut, glaube ich. Das muss auch nicht gleich sein, wir können gerne warten, bis du wieder bei dir zu Hause einziehst. Solltest du das denn wieder tun. Also, ich meine, das soll nicht heißen, ich will mich nicht in eure …«
»Um acht. Die Comtesse ist ohnehin nicht zu Hause. Und du behauptest, dass du gut spielst?«
»Ich glaube schon, ja. Ich bin dann um acht Uhr da.«
Wenn Arne Pedersen grinste, sah er aus wie ein großer Junge.
Gut sechs Stunden später sah Arne Pedersen wie ein kleiner Junge aus, ein kleiner Junge, der langsam, aber sicher von seinen Schachfiguren erdrückt wurde. Die zwei Männer saßen sich am Esstisch der Comtesse gegenüber. Die Partie zog sich in die Länge, obgleich ihr Ausgang seit einiger Zeit feststand. Konrad Simonsen würde gewinnen, trotzdem dachte er unbegreiflich lange über einen ziemlich offensichtlichen Zug nach. Arne Pedersen versuchte zu ergründen, warum
Weitere Kostenlose Bücher