Das weisse Horn
einzuschlagen.
An den Felsen gekrallt, betrachtete er besorgt den über
ihm hängenden Vorsprung. In ihm keimte lähmende Ver-
zweiflung. Und in diesem Augenblick schoß ihm ein
Gedanke durch den Kopf:
Was machte der legendäre Krieger vor 300 Jahren? Der ~
Wind . . . Ja, der Krieger bestieg den Felsen auch an einem
stürmischen Tag!
Ussolzew trat jäh zur Seite, warf seinen Körper über den
Vorsprung des Grates, krallte sich mit seinen Fingern in
die glatte Wand und prallte zurück. Schmerzhaft, als woll-
ten sie reißen, spannten sich seine Bauchmuskeln an, um
den Fall aufzuhalten. Im selben Augenblick fühlte Ussol-
zew einen Windstoß im Rücken, der hinter dem Grat
hervorkam und ihn leicht stützte. Der von der tödlichen
Gefahr gepackte Körper streckte sich durch die unerwartete
Unterstützung und schmiegte sich an die Wand. Ussolzew
stand auf dem schmalen Vorsprung. Hier, hinter dem Grat,
wehte der Wind so stark, daß ihn sein weicher Druck
hielt. Ussolzew konnte sich auf dem schmalen Sims fort-
bewegen, obwohl dieser nach oben führte. Er stieg noch
weitere fünfzig Meter hoch und wunderte sich, daß er
immer noch nicht abgestürzt war. Der Wind tobte stärker
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und drückte ihn gegen die Felsenbrust. Vorsichtig setzte
er seine schmerzenden Füße voreinander und tastete sich
den Steilhang hoch, während er die abbröckelnde lose
Kruste zur Seite schob. Langsam, Schritt für Schritt, stieg
er höher. Der Wind heulte und pfiff, das Geröll knirschte
beim Herunterfallen, und Ussolzew erfaßte eine seltsame
Fröhlichkeit. Er schwebte buchstäblich in die Höhe, ohne
sich am Felsen stützen zu müssen. Und die Überzeugung,
sein Ziel zu erreichen, gab ihm immer neue Kräfte. Schließ-
lich stützte sich Ussolzew an der glatten, steilen Wand
eines hohen Sockels. Auf diesem Sockel ragte noch immer
in großer Höhe das scharfe Ende des Horns in die Wolken.
Von hier aus konnte Ussolzew erkennen, daß die weiße
Masse des Horns mit großen schwarzen Flecken durchsetzt
war. Aber dieser Eindruck wurde durch die Freude darüber
verdrängt, keinen der zwölf Haken verbraucht zu haben.
Die Wand war in einer Höhe von etwa zehn Metern der-
artig glatt und steil, daß ihm keine Kraft geholfen hätte,
dieses Hindernis zu überwinden. Das erfahrene Auge des
Geologen fand aber leicht die schwachen Stellen in dem
Steinpanzer. Dort, wo verschiedene Schichten aufeinander
stießen, bemerkte er feine Risse. Ussolzew schlug hier die
Haken ein. Er hatte nur ganz dünne, leichte Haken mit-
genommen. Wenn einer von ihnen abbrach, dann . . .
Er stieg an den Haken empor und mußte auf die Südseite
des steinernen Turmes hinüberklettern. Verschiedene Ge-
steinsschichten, die aus dem Hang herausragten, bildeten
kleine Vorsprünge und halfen ihm beim weiteren Aufstieg.
Hier wurde der Wind, der bis jetzt ein treuer Verbündeter
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gewesen war, zum gefährlichen Feind. Nur der Schutz des
Felsens rettete Ussolzew vor dem Absturz.
Einige Male hing er nur an den Händen, wenn unter ihm
ein Vorsprung abbrach. Dann bedeckte sich sein Körper mit
kaltem Schweiß, während seine Zehen krampfhaft nach
einer Stütze suchten. Immer mehr todbringende Meter ließ
er zurück. Endlich gelang es Ussolzew mit letzter ver-
zweifelter Anstrengung, wobei er zweimal abrutschte und
jedesmal vom Leben Abschied nahm, auf die Westseite zu
klettern und - jetzt wieder vom Wind gestützt - sich am
Rand eines kleinen Plateaus am Fuße des Horns festzu-
krallen. Ohne an seinen Sieg zu denken, zog er sich fast
bewußtlos mit den Händen hinauf und starrte auf das nach
innen geneigte Plateau, das nicht größer war als ein Tisch.
Lange lag er da, von den Stunden tödlichen Kampfes er-
schöpft, und hörte nichts, als das eintönige Heulen des
Windes, der sich an dem scharfen Horn stieß. Dann sah er
einige dicht über den Gipfel fliegende Wolken. Ussolzew
erhob sich auf die Knie und wandte sich dem rätselhaften
weißen Gestein zu. Jetzt endlich lag es vor ihm und über-
ragte ihn nur noch um wenige Meter. Man konnte es mit
der Hand betasten und genügend Proben abschlagen.
Mit einem Blick stellte er fest, daß das weiße Gestein ein
durch hohe Temperaturen veränderter Granit voller Zinn-
stein, Kassiterit genannt, war. In der reinen weißen Masse
war verstreut silbriger Glimmer eingesprengt, schwarzen
Spinnen ähnliche, fettglänzende Topase und das Hauptziel
seines Unternehmens - große,
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