Das weisse Kaenguruh
großen Grundstück am Hang stand und nach allen Seiten von einem üppigen, weitläufigen Garten umgeben war. Der Baumbestand war ausgesucht, mit Bedacht gepflanzt und reichte von gestreutem Obst über exklusive Nadel bis zu monolithisch in den Himmel ragendem Laub. In den Hang waren zwei Terrassen eingearbeitet, in denen sich die Beete für verschiedenes Gemüse und Fruchtzeug befanden. Unterhalb der Terrassen schlängelte sich ein junger Bach durch den Garten und machte sich auf in Richtung Nordsee. An einer Stelle staute er sich zu einem kleinen Teich, in dem ein Rudel Forellen zur Fangreife gepäppelt wurde. Das Wasser hatte die Qualität dafür. Und es war kalt genug. Billy bekam jedesmal fast einen Herzkasper, wenn er sein morgendliches Bad darin nahm.
Das Hexenhäuschen selbst hatte eine geräumige Wohnküche mit angeschlossenem Wohnzimmer im Erdgeschoß, dazu ein Bad mit Wanne (!), ein separates Klo und im ersten Stock noch ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und eine kleine Kammer für das Gästebett. Der Speicher war (noch) nicht ausgebaut und einen Keller gab es keinen. Genug Platz war trotzdem. Billy wohnte immerhin allein. Seit über einem Jahr schon. Nicht ganz grundlos, übrigens. Für ein ausschweifendes Privatleben samt Freundin hätte er gar keine Zeit gehabt. Er arbeitete viel, war praktisch Tag und Nacht im Auftrag seines neuen Arbeitgebers unterwegs und kam daher aus dem maßgeschneiderten Anzug, in dem er mittlerweile steckte, gar nicht mehr heraus. Einzig Florian und seine Eltern hatten ihn bisher hier draußen besucht. Florian allerdings ständig; seine Eltern eher mit angezogener Handbremse. Obwohl erwieder gut mit ihnen war. Er hatte sich mit seinem Vater ausgesöhnt. An einem denkwürdigen Abend in einer Troisdorfer Pinte und mit Freund Alkohol im Schlepptau. Da lagen sich die beiden am Schluß sogar in den Armen und tauschten hemmungslose Zärtlichkeiten aus. Was für eine verrückte Kraft die Zeit doch ist.
Billy hatte kaum seinen Gurt gelöst, da sprangen seine beiden Esel schon auf das Auto zu. Muhammad hieß der eine, Ali der andere, und das, obwohl Ali eindeutig ein Weibchen war. Billy hatte sie von einem Bauern aus dem nächsten Ort für einen Schlachtpreis erstanden und war sehr zufrieden mit seinem Kauf. Muhammad und Ali waren ihm zwei treue, charaktervolle, fröhliche und vor allem unterhaltsame Kumpel geworden. Auf dem Land kann es zur Einsamkeit kommen, und da, wo Billy wohnte, wurde die Einsamkeit quasi erfunden. Nachbarn gab es keine, der nächste Zigarettenautomat wäre über sechs Kilometer entfernt, und selbst die Zeugen Jehovas hatten sich bisher noch nicht in seine Einöde verirrt. Billy wohnte nicht am Arsch der Welt. Er wohnte schon im Darm.
Muhammad und Ali waren irgendwie komisch drauf heute. Billy hatte es sofort bemerkt, als er ausgestiegen war. Irgend etwas stimmte mit ihnen nicht. Da war zum einen Ali. Normalerweise begrüßte sie Billy abends, wenn er nach Hause kam, mit einer ekstatischen Schmuseattacke. Aber heute baute sie sich nur breitbeinig vor ihm auf, schaute ihn aus tiefroten Augen an und streckte ihm dann ihre lange, feuchte und rosa Zunge entgegen. Saufrech. Wie ein kleines Kind, das Schläge will. Und auch Muhammad überraschte mit einem absolut neuen Verhaltensmuster. Eigentlich war er der ruhende Pol in Person, aber heute drehte er einfach nur durch. Wie von Luzifer besessen rannte er im Kreis um das Auto herum, Runde um Runde, laut i-ahend und notorisch schwanzkreisend. Selbst, als sich Billy ihm irgendwann in den Weg stellte, ließ er sich nicht aufhalten, sondern rannte weiter und weiterund Billy dabei mehrmals fast über den Haufen. Als ob ein Esel ein Recht auf Kollateralschäden hätte.
Und dann kam die große Überraschung. Muhammad brach zusammen und starb. Jedenfalls tat er so. Und er spielte seine Rolle perfekt. In der ungefähr dreiundvierzigsten Runde um das Auto machte er eine Vollbremsung, blieb für einige Sekunden stocksteif und Auge in Auge mit Billy stehen, schaute ihn dabei an wie der Tod das Leben, sackte anschließend in mehreren Etappen in sich zusammen, ließ sich theatralisch auf die Seite kippen, schnaufte ein letztes Mal durch und streckte schließlich alle viere von sich. Billy wäre fast mitgestorben vor Schreck. Doch als er über die Frage nachdachte, ob man einen Esel durch Mund-zu-Mund-Beatmung wiederbeleben könnte, erwachte Muhammad plötzlich aus seiner Totenstarre, schleckte Billy mit der Zunge übers Gesicht
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