Das weisse Kaenguruh
Priorität.
Er beschloß, seine Suche für einen kurzen Augenblick zu unterbrechen, lief zurück durchs Wohnzimmer und den Gang hinunter auf die Gästetoilette. Zum Glück war sie frei. Er sperrte die Tür hinter sich ab, klappte den Klodeckel hoch und brachte sich in Position. Wie immer dauerte es eine ziemliche Weile, bis etwas passierte. Während er so wartete, liefen vor seinem inneren Auge noch einmal die letzten Jahre mit Annabelle ab.
Es war ein Traum und er war türkischhonigsüß.
Dann, als er fertiggepinkelt und ausgeträumt hatte, knöpfte er sich die Hose zu und ging zum Waschbecken. Er wusch sich die Hände und benetzte das Gesicht mit kaltem Wasser. Mann, tat das gut. Er atmete noch einmal tief durch und war wieder bereit. Die Suche konnte weitergehen. Nächste Station Partyzelt. Mit frischem Mut ging er zur Tür.
Und plötzlich stand sie vor ihm.
Annabelle!
Stand einfach da, einfach so und wunderschön wie je.
Annabelle, seine Liebe.
Stand einfach da.
Und glaubte es selber nicht.
»Billy«, sagte sie völlig perplex und schaute ihn mit großen Augen an.
Billy schaute zurück. Sein Puls schoß sofort in ungeahnte Höhen und sein Herz stürzte ab.
»Überraschung«, sagte er nach einem kurzen Augenblick.
»Was machst du denn hier?« fragte sie.
»Ich wollte dich sehen. Was glaubst du?«
»Ja, aber …«
»Was aber?«
»Ich meine, ich hatte nicht mit dir gerechnet.«
»Scheint in der Familie zu liegen.«
Wie meinst du das denn?«
»Na ja, dein Vater hat genau das gleiche gesagt. Er hat auch nicht mit mir gerechnet. Anscheinend rechnet überhaupt keiner mehr mit mir. Lustig, was?«
Dann war es still. Unendlich still. Billy und Annabelle standen vor dem Klo und schauten sich an. Nichts weiter. Sie waren keinen halben Meter voneinander entfernt und dabei eine Unendlichkeit voneinander weg.
»Hast du kurz Zeit?« fragte Billy schließlich. »Ich muß dir was zeigen. Ich habe ein Geschenk für dich. Draußen. Auf meinem Auto. Steht vor der Tür.«
»Billy, hör mal«, sagte Annabelle und schaute erst auf den Boden und dann an ihm vorbei. »Das ist wirklich kein guter Moment, weißt du. Weil …«
Und dann passierte es.
Annabelle konnte nicht mehr zu Ende sprechen.
Sie wurde unterbrochen.
Von einem Mann.
Er stand plötzlich hinter ihr, legte seinen Arm um ihre Schulter und sagte einen Satz, der alles veränderte.
»Papillon«, sagte er. »Te voilà! Isch abe disch schon überall gesucht.«
Und dann küßte er sie auch noch auf den Hals.
Schmetterlinge im Bauch.
Um 8.01 Uhr am nächsten Morgen wurde Billy wieder wach. Eine gewaltige Explosion hatte ihn aus einem komatösen Schlaf gerissen. Mehrere Fensterscheiben seiner Datsche gingen durch die Wucht der Explosion zu Bruch, und die Erde fing plötzlich an zu beben wie in Japan. Blitzartig schreckte Billy hoch und saß im selben Moment senkrecht in seinem Bett.
»Scheiße, was ist das denn«, rief er und schaute sich verwirrt um.
»Nur die Ruhe«, sagte sein bester Freund Florian und blieb liegen. »Die haben bloß gerade den Kaiser in die Luft gejagt.«
Es war Sonntag, der 13. Mai 2001, die Sonne schien, und Troisdorf, die Perle des Rheinlandes, hatte sich soeben seines einzigen echten Wahrzeichens entledigt. Mit 450 Kilogramm Sprengstoff hatte man den Kaiserbau dem Erdboden gleichgemacht.
Mehr als dreißig Jahre lang war der Kaiserbau das unverwechselbare Gesicht der Stadt gewesen. Ein unwirtlicher Koloß aus Beton und Stahl, 60 Meter hoch, über 70 Meter lang und damit eine der größten und gleichzeitig absurdesten Bauruinen der Republik.
Zu verdanken hatten die Troisdorfer das Schandmal einem einfallsreichen, aber auch – wie sich im nachhinein herausstellte – windigen Investitionsguru namens Franz Kaiser. Die Idee war ihm Anfang der 70er Jahre gekommen. Der Kaiser wollte an der A 59 ein Airport-Hotel errichten und sein Größenwahn endete im Desaster.
Dabei hatte er die Troisdorfer Volksseele mit seinem Plan zunächst fest im Griff gehabt. Eine Luxusherberge wollte er dieser unbedeutenden Stadt in der Nähe von Köln schenken, einfach so, ein Sinnbild einer absolut durchgeknallten Vision. Mit 500 Zimmern, 1200 Betten und einem Pool auf dem Dach sollte der Kaiserbau das damals größte Hotel Deutschlands werden.
Leider hatte sich der Kaiser mächtig verspekuliert. Was 1973 mit einem vielbeachteten Spatenstich begann, entwickelte sich schnell zu einem der dunkelsten Kapitel der Troisdorfer Stadtgeschichte. Kaum war
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