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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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zog ihre Handschuhe an. Kristens Anruf war mittags punkt zwölf Uhr eingegangen, vor dreieinhalb Stunden. Kristen musste inzwischen halb wahnsinnig sein.
    Draußen fiel trockener Schnee auf Clares Wangen und Nase, während sie ihre Windschutzscheibe abwischte. Noch blieb nicht viel liegen. Wenn sie zu der Jagdhütte weniger als eine Stunde brauchte, sollten ihr die Straßen noch keine zu großen Probleme bereiten. Der Motor des MG erwachte dröhnend zum Leben. Das machte Mut. Sie würde vermutlich nicht zurückkommen, bevor der Sturm sich gelegt hatte. Mit der letzten Serviette wischte sie sich den geschmolzenen Schnee vom Gesicht. Früher, als junge Romantikerin, hatte sie immer fantasiert, in einer rustikalen Hütte eingeschneit zu sein. Aber bestimmt nicht in der Gesellschaft Brenda McWhorters.
    Die Route 9 war Richtung Norden recht belebt und leicht befahrbar, auch wenn der Räumdienst dort noch nicht gewesen war. In der Nähe des Lake Lucerne bog Clare ab und nahm die River Road Richtung Süden. Zu ihrer Linken floss der Hudson, tief und schnell, der in seinen grauen Fluten Schnee-und Eisklumpen mitriss. Hier waren viel weniger Wagen unterwegs. Schneeböen wehten über die Straße und bedeckten den Asphalt. Clare warf einen Blick auf die Wegbeschreibung. Auf der Tenant Mountain Road ging es westwärts. Hinter den Bergen, die vor ihr aufragten, war keine Spur von Sonnenuntergang zu sehen, nur ein grauer Mantel aus Himmel und Schnee, der dichter und härter gegen die Windschutzscheibe prallte. In Abständen kam Clare an Häusern vorbei, deren Lichter durch die wirbelnden Flocken schimmerten wie Figuren in einer Glaskugel. Schön und unerreichbar. Sie fühlte sich einsam und isoliert, als wäre sie ein Stein, der übers Wasser springt. Um wenigstens die Illusion von Gesellschaft zu haben, drehte sie das Radio auf.
    Dann erspähte sie Alan’s Gas and Grocery, das bei der Wegbeschreibung als Orientierungspunkt genannt wurde. Von hier waren es zwei Meilen bis zu der Straße, die direkt ins Gebirge führte. Es war eine kleine Raststätte, deren Leuchtreklame fröhlich und geschäftstüchtig durch den Sturm strahlte. Coca Cola! Budweiser! Diesel $1.00! Fast wollte Clare anhalten. Dort drinnen wäre es trocken und geschützt, es gäbe ein Telefon, sie könnte zugeben, dass sie zu unerfahren war, mit ihrem Auto bei diesem Wetter herumzukutschieren und – wen anrufen? Jemanden aus ihrer Gemeinde? Ein Taxi?
    Sie knirschte mit den Zähnen. Russ war der einzige Freund, den sie um einen solchen Gefallen bitten konnte. Sie ließ den Parkplatz der Raststätte links liegen. Unmöglich, nach dem gestrigen Abend jetzt anzukommen wie ein winselnder Hund und darum zu betteln, dass man sie heimholte! Sie atmete tief durch. Ihre Unerfahrenheit mit den winterlichen Straßenverhältnissen und die fremde Landschaft machten sie nervös. Wenn sie sich beruhigen, aufpassen und nicht panisch in die Arme des nächstbesten großen starken Mannes flüchten würde, dann konnte ihr eigentlich nichts passieren. Alan’s Gas and Grocery verschwand aus ihrem Rückspiegel. Noch zwei Meilen bis zu der Abzweigung. Sechs Meilen bis zur Forststraße. Weniger als eine Meile zur Hütte. Selbst wenn sie von ihren derzeit dreißig Meilen pro Stunde heruntergehen müsste, würde es kaum länger als zwanzig Minuten dauern. Und dann bekäme Kristen etwas zu hören, weil sie keine Telefonnummer hinterlassen hatte.
    Als sie die Zwei-Meilen-Marke erreichte, verlangsamte Clare. Ihre Scheinwerfer leuchteten trüb in die dichter werdende Dunkelheit. Die Ränder der Lichtkegel wurden vom Schnee verwischt, ihre Helligkeit vom Sturm verschluckt. Zwei Steinpyramiden kennzeichneten die ansonsten unbeschilderte Straße. Unter dem Schnee wirkten sie wie hagere, missgebildete Schneemänner, und plötzlich bereute Clare, dass sie Mrs. McDonalds Plastik-Schneemänner grauenhaft gefunden hatte. An einem solchen Abend wären sie ein weithin sichtbares Zeichen für eine Gastfreundschaft, die die Grenze zwischen Geborgenheit und Sturm markierte.
    Sie stellte den Kilometerzähler auf null, bog ab, schlingerte und steuerte zu sehr dagegen. Dann stabilisierte sie den MG und folgte der Steigung. Die Bäume rückten dichter heran, ein Schutzwall gegen die Wucht des Schneetreibens.
    Die Abenddämmerung färbte den Himmel und das Flockengestöber unterwasserblau, als würde Clare durch eine versunkene Welt navigieren. Sie schaltete herunter, und mit dröhnendem Motor wühlten sich ihre

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