Das Weisse Kleid Des Todes
mal in so ein Schneetreiben geraten, hier im Norden von New York. Ein Freund von mir misstraut meinem Wagen, wenn es schneit.«
Clare sah in den Rückspiegel, wechselte die Spur und klemmte sich ihr Mineralwasser zwischen die Schenkel. Sie schaltete ihr Radio ein, während ein Schwerlaster sie überholte. Auf dem Northway war an diesem Samstagnachmittag nicht viel Verkehr.
»Die aktuelle Wetterlage auf WNCR!«, trompetete es aus den Lautsprechern. »Von Nordwesten zieht rasch ein Tiefdruckgebiet heran«, meldete der Sprecher. »Mitte des Nachmittags ist voraussichtlich mit Schnee und gegen Abend mit einem Temperaturrückgang unter minus fünfzehn Grad zu rechnen. Der Wind erreicht Sturmstärke. Schneefalldichte bei zehn bis fünfzehn Zentimetern in den Talniederungen des Hudson, in den Bergen darüber. Wenn ihr die Bretter noch nicht anhabt, Leute, dann los! Auf den Gipfeln ist jetzt Hochsaison!« Der Wetterbericht wurde für einen Werbespot unterbrochen, der den Wintersport im Hidden-Valley-Gebiet anpries.
»Na, reizend«, murmelte Clare. Sie aß ein paar Pommes. Sie konnte noch keinen »Schnee riechen«, wie es Russ von sich behauptete, aber selbst sie erkannte an dem bleigrauen Himmel die Vorboten eines Schneesturms. Hört das denn hier nie auf?
»Bilde ich es mir nur ein, oder schneit es diesen Dezember wirklich so viel?«, fragte der weibliche DJ.
»Du bildest dir nichts ein, Lisa. Seit 1957 hat es im Dezember erst zweimal so viel geschneit«, antwortete die Stimme des Meteorologen. »Und bei den Stürmen, die sich zurzeit über den Rockies und dem kanadischen Tiefland zusammenbrauen, stellen wir vor Ende des Monats vielleicht einen neuen Rekord auf.«
Clare stöhnte.
»Also raus, Leute, erledigt eure Weihnachtseinkäufe, bevor ihr nicht mehr vor die Tür könnt und auf die Schneepflüge warten müsst. Hab ich nicht Recht, Dave?«
»Absolut, Lisa!«
»Also, legen wir etwas auf, das dieser Jahreszeit entspricht!«
Harry Connick Juniors Stimme erklang im Wagen. » I’m dreaming of a white Christmas …« Mit spitzen Fingern nahm Clare ihren Bacon Burger von dem High-School-Album. Nach ihrem Gespräch mit Emily und Ebony hätte sie auch gleich heimfahren können, statt bis nachmittags zu warten und mitten in den Sturm hineinzufahren. Nicht ein Mensch im Computerzentrum der Universität erinnerte sich, Katie mit Wes oder Alyson gesehen zu haben.
Nachdenklich aß Clare ihren Burger. Alyson hatte ihr, Russ und den eigenen Eltern ins Gesicht gelogen. Vielleicht war sie wegen Katie sitzen gelassen worden. Hatte sie sie in einem Eifersuchtsanfall ermordet? Und was konnte sie gesagt haben, um Katie wieder nach Millers Kill zu locken? Hatte sie irgendwie von dem Baby erfahren?
Den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet, suchte Clare nach einer Serviette und wischte sich den Mund ab. Es fiel ihr erstaunlich leicht, Alyson das Schlimmste zu unterstellen. Etwas an dieser jungen Frau ging ihr unter die Haut. Wer hätte geahnt, dass sie immer noch die Probleme, in ihrer High-School-Zeit das hässliche Entlein gewesen zu sein, mit sich herumschleppte? Clare runzelte die Stirn. Vielleicht hatten Alyson und Wes es gemeinsam gemacht, wie dieses Schülerpärchen drüben in Texas. Die hatten ein Mädchen umgebracht, das ihre Affäre zu zerstören drohte.
Clare seufzte. Sie würde Russ anrufen und ihm alles erzählen müssen. Dieser Fall verästelte und verhedderte sich wie die Drähte eines schlechten Bordnetzes, was ihr als Pilotin gegen den Strich ging. Vielleicht hatte Russ Recht gehabt, sich auf die Burns zu stürzen. Nicht weil die beiden eine Schuld traf, sondern weil es hoffnungslos war, aus Splittern von Motiven und Einblicken in das menschliche Herz ein Verbrechen zu rekonstruieren. Konkrete, greifbare Beweise, nur damit überführte man einen Schuldigen. Und außerdem: Wie sollte sie, Clare, Alyson dazu bringen, dass sie mit ihr sprach? Russ war … war … nicht ganz im Unrecht. Aber wenn er glaubte, sie würde das am Telefon zugeben, dann hatte er sich geschnitten.
Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang gelangte sie auf den winzigen Parkplatz von St. Alban’s, heilfroh, dass sie den Sturm hinter sich gelassen hatte. Was ihre Winterfahrkünste betraf, machte sie sich nichts vor. Sie sperrte die Hintertür auf und ging in ihr Arbeitszimmer, wobei sie an der Kaffeemaschine stehen blieb, um sie einzuschalten. Lois musste den Thermostat heruntergedreht haben, als sie mittags nach Hause gegangen war, denn im
Weitere Kostenlose Bücher