Das Weisse Kleid Des Todes
zweiundzwanzig Minuten.
Clares Absatz trat auf etwas Loses, sie rutschte ab, ruderte mit den Armen und landete auf ihrem Hinterteil. Den Schnee von ihrer Hose klopfend, rappelte sie sich wieder auf. Also zweiundzwanzig Minuten plus Zeit zum Hinfallen und Aufstehen.
Am Straßenrand hatte sich ein toter Ast in einer Baumgabel verkeilt. Clare zerrte ihn frei. Der Ast war gerade gewachsen und dünn genug, dass sie ihn in eine Hand nehmen, und lang genug, dass sie damit den Schnee ein paar Schritte vor sich sondieren konnte. Sie schlug die Eiskruste von der Rinde und marschierte weiter, indem sie den Weg mit dem Stock abtastete.
Na schön. Vier oder fünf Stunden für die zehn Meilen bis zu Alan’s Raststätte. Und was war mit einer anderen Hütte? Clare konnte bergab wandern bis zur nächsten Forststraße. Zwei, drei Meilen vor der Abzweigung war sie an einer vorbeigekommen. Falls es bis zu einer Hütte noch einmal eine Meile war, dann wäre das immerhin nur halb so weit wie zur Raststätte. Sie würde Schutz finden. Warme Decken. Wahrscheinlich sogar einen Ofen oder Kamin. Und, so Gott wollte, ein funktionstüchtiges Telefon.
Schnee bedeckte allmählich ihren Kopf und fiel ihr ins Gesicht. Sie rieb sich die Wangen mit einem Handschuh ab. Die Raststätte nicht direkt anzusteuern wäre natürlich ein Risiko. Wenn sie innerhalb einer Meile von der Hauptstraße keinen Unterschlupf finden würde, dann müsste sie zurückgehen. Sie schob den Ärmel ihres Parkas ein Stück hoch und ließ ihre Uhr aufleuchten. Kurz vor fünf. Bis sie zum nächsten Forstweg käme, wäre es völlig dunkel. Traute sie es sich zu, nachts und bei schwerem Schneefall einer schmalen, nicht geräumten Straße zu folgen? Das Unterwasserblau wurde dunkler und verschluckte bereits ein paar Meter vor ihr die Einzelheiten des Waldes. Entfernungen ließen sich dadurch nicht mehr bestimmen.
Ein bisher verdrängter Gedanke trat gnadenlos in den Vordergrund. Ich könnte hier umkommen. Clares Magen hob sich, als stürzte sie in Sekundenschnelle dreihundert Meter in die Tiefe. Gut möglich, dass sie eines der zahlreichen Opfer würde, deren Verschwinden Freunden und Familie ein Rätsel war, bis eines schönen Herbsttages in vielen Jahren Jäger über einen Polizeiparka aus Millers Kill stolperten, in dem Clares eigene Gebeine steckten.
»Gott«, sagte sie, und ihre Stimme klang dünn in der ungeheuren Stille der Wälder, »ich will nicht sterben. Bitte hilf mir.«
Sie stocherte mit ihrem Stock in eine besonders tiefe Schneewehe, die einer ihrer Reifen aufgewirbelt hatte. Viel mehr, schien es, konnte sie ihrem Gebet nicht hinzufügen, es sei denn: »Und gib, dass ich denjenigen finde, der mich hierher gelotst hat, damit ich ihm oder ihr den Hals umdrehe.«
Nein, das ging nicht.
Vorsichtig tastete sie, Schritt für Schritt, mit dem Stock den Weg vor sich ab. Der 139. Psalm. Es war ein düsterer Abend gewesen, so wie jetzt; der Himmel dunkel von Regen statt hell von Schnee. Sie hatte am Bett ihrer Schwester gesessen, Grace’ Hand lag federleicht auf der ihren, weil es Grace wehtat, wenn man sie anfasste, und mit seiner tiefen, weichen Stimme las ihr Vater den 139. Psalm:
»Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.« Es war ihr letztes gemeinsames Gebet gewesen.
In der Stille und Finsternis hier, so weit weg von Grace’ Leben und Tod, verspürte Clare eine große Nähe zu ihrer Schwester und einen Moment die absolute Gewissheit, dass der Tod nur ein Taschenspielertrick war und die Toten sie auf allen Seiten umgaben, ihr halfen, ihr Kraft schenkten, ihr einschärften, auf den Weg zu achten, auf den Weg zu achten …
Hinter einer Kurve, direkt vor ihr, tauchte eine dunkle Gestalt auf.
Clare blinzelte, und ihr Herz pochte heftig. Während sie wie angewurzelt stehen blieb, ihre Muskeln sich anspannten und ihr Griff um den Stock sich verstärkte, fragte sie sich: Warum renne ich nicht los?
Die mächtige Gestalt machte wieder einen Schritt. Sie trug einen Overall, eines von diesen wattierten Dingern, in denen man hier in der Gegend im Schneemobil fuhr. Clare entspannte sich ein winziges bisschen und setzte schon zum Sprechen an, da wurde sie vom Strahl einer Taschenlampe getroffen.
»Ziehen Sie die Jacke aus«, zischte eine Stimme.
Von der plötzlichen Helligkeit geblendet, kniff Clare die Augen zu und
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