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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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über dem Erdboden mit Dutzenden von Zweigen gespickt war, hielt sie inne und blickte auf. Schnee prasselte auf sie herab. Es war Zeit, sich nach einem Unterschlupf umzusehen, wo sie ihrem Jäger auflauern könnte, denn der einzige Weg aus diesem Wald hinaus führte über seine Leiche.
    Sie hangelte sich den Baum hinauf. Schneeschauer, hier und da ein verlassenes Nest regneten herab, kleine Zweige brachen ab und verschmierten Clares Parka mit klebrigem Harz. Sie kletterte, bis der Stamm unter ihrer Last zitterte. Dann bog sie einen buschigen Tannenzweig zurück, um einen freien Blick zu haben.
    Durch das Zwielicht über dem Boden – der beunruhigend nah war – konnte sie eine Taschenlampe tanzen sehen. Ihr ganz persönliches Sankt-Elms-Feuer, Bote von Tod und Verderben. Sie bog einen anderen Ast zur Seite und spähte angestrengt durch den Schnee und die Düsternis. Sie musste unbedingt höher hinauf, an irgendeine Stelle, wo sie ihren Verfolger hinlocken könnte und er ermüden würde.
    Rechts von ihr, in schwer einzuschätzender Distanz, ragte eine Kette steiler kleiner Hügel auf. Das hieß zwar, von der Straße abzuweichen, aber es gab dort dichtes Immergrüngestrüpp, vermischt mit Birken und Ahorn – ideal für das, was Clare plante. Wenn sie schnell genug wäre, dann könnte sie zu der kleinen Anhöhe zurück, wo sie gestolpert war, und von dort aus eine große, überdeutliche Spur hinterlassen, um ihren Feind in die Falle zu locken. Ihr wirklicher Weg hingegen … Sie kniff die Augen zusammen. Sie hätte in diesem Moment ein Jahresgehalt für einen Feldstecher gegeben. Der letzte der Hügel wurde von einer dunkleren Schneise durchschnitten. Möglich, dass diese Schneise zu der Schlucht gehörte, wo Clare abgestürzt war. Ein Wasserlauf würde auch die kleinen Hügel erklären: härteres Gestein, von dem jedes Frühjahr etwas mehr abgetragen wurde.
    Clare biss sich auf die Lippen. Die Schlucht – das war’s! Unelegant und mit lautem Krachen kletterte sie so schnell wie möglich von der Tanne herab. Würde ihr Angreifer sie im freien Gelände erwischen, dann wären alle schlauen Pläne dieser Welt keinen Schuss Pulver wert. Sie folgte ihrer Spur zu einem Überhang zurück, wo sie gestolpert und gefallen war. Von dieser zerwühlten Stelle im Schnee brach sie zu ihrem Hinterhalt auf und hinterließ eine deutliche Spur. Sie nahm den direkten Weg – vermied jede Deckung – auf das dichteste Nadelgehölz beim ersten Hügel zu.
    Das Ganze würde hoffentlich so aussehen, als hätte sie ein potenzielles Versteck entdeckt und wäre hingerannt. Dort angekommen, machte sie kehrt und ging die letzten fünfzig Meter langsam bis zu der Anhöhe zurück, um nicht von der Spur abzukommen, die sie gezogen hatte. Unter ihrem Parka war sie klamm vor kaltem Schweiß, und ihr Herz hämmerte vor Anstrengung und Furcht. Wieder an ihrem Ausgangspunkt, suchte sie sich vorsichtig einen Weg bergab, wobei sie so oft wie möglich auf herabgefallene Zweige trat, um ihre Spur zu verwischen. Sie wollte, dass er nichts als dichtes Nadelgestrüpp sähe und annahm, dass sie sich darin einen Unterschlupf gesucht hätte und dass es oben auf dem Hügel noch mehr Stellen gäbe, wo sich eine verängstigte Frau verkriechen und darum beten könnte, unbemerkt zu bleiben.
    Clare hörte ein Geräusch hinter sich und erstarrte. Den Kopf eingezogen und die Hände auf ihren Mund gepresst, wartete sie. Da, wieder ein Geräusch! Ein Knistern, danach ein Scharren. Sie kämpfte gegen den Drang, ihre Augen zuzumachen wie ein kleines Kind, das sich vor Gespenstern versteckt. Ein Rauschen ertönte, dann ein Klatschen in der Luft, und aus dem Augenwinkel sah sie eine Eule auffliegen. Clares Lunge drohte zu explodieren. Sekundenlang wie gelähmt, versuchte sie, sich zu erinnern, wie man richtig atmete. Dann setzte sie ihren Weg bergab fort – immer schneller, je weiter sie sich von dem Ausgangspunkt entfernte, trotz des Risikos, unübersehbare Spuren zu hinterlassen. Sie wollte Zeit gewinnen.
    Wie aus heiterem Himmel geriet sie an den Rand der Schlucht und wäre um ein Haar abgestürzt, als sie den Felsvorsprung verfehlte, den sie sich für ihren nächsten Sprung auserkoren hatte. Sie schlitterte ein paar Meter auf dem Bauch nach unten, ehe sie sich an einer freiliegenden Wurzel festhalten konnte, um ihren Fall zu bremsen. Mit verzerrtem Gesicht betrachtete sie die Spur, die sie hinterlassen hatte. Breiter ging’s wohl nicht! Sie konnte nur hoffen, dass ihr

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