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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Zentimeter aus dem Schnee. Ein niedriger Sichtschutz, aber gut genug, wenn sie sich ein wenig einbuddelte und auf Tauchstation blieb. Vielleicht würde ihr Jäger sie übersehen, während er Revolver und Taschenlampe auf potenzielle Verstecke richtete. Einziges Problem: Die Kapuzenschnur reichte nicht bis dorthin.
    Ein Licht blinkte in der Ferne. Clares Magen krampfte sich zusammen. Keine Zeit. Sie ließ die Birke mit der baumelnden Schnur im Stich, um die nächste struppige Schierlingstanne anzusteuern. Ein biegsamer, noch nicht abgestorbener Zweig wuchs dicht über dem Erdboden. Sie packte ihn und trat darauf. Der Zweig brach ab, und Clare schwankte einen Moment. Sie hatte den Tritt kaum gespürt. Schlechtes Zeichen.
    Immer wieder blitzte das Licht in der Dunkelheit auf. Clare nahm das lose Ende der Kapuzenschnur und band den buschigen Zweig mit einem doppelten Knoten daran fest. Dann zog sie das Ganze straff. Es hielt. Sie zog noch ein Stück, bis sich die Birke zu dem Leichnam der Kiefer hinunterbog. Alles stabil, obwohl der junge Stamm vibrierte. Clare wand sich den Kiefernzweig, der dünn wie eine Reitgerte war, mehrmals um die Faust, sodass die Birke dem Boden immer näher kam. Ein echter Kraftakt. Mit der anderen Hand warf sie den Stein unter den toten Baum, kniete sich hin und schaufelte hastig ein wenig Schnee zur Seite, damit sie sich hinlegen konnte. Sie grub sich ein, so tief es ging.
    Auf dem Bauch liegend, zog sie mit beiden Händen an der Birke. Ihre Schultermuskeln verkrampften sich vor Anstrengung, und der Zweig schnitt ihr in die Handschuhe. Die Birke war nun fast im Schnee begraben, nur ein bogenförmiges Stück Stamm war noch sichtbar. Sie hoffte, es würde wie ein großer abgebrochener Ast wirken, über den ein wütender, erschöpfter Mann bedenkenlos hinwegstieg oder an dem er wenigstens bedenkenlos vorbeiging. Sie konnte den Lichtschein von ihrem Versteck aus nicht mehr sehen, aber sie wusste, er war da. Ganz in der Nähe. Ihr auf der Spur.
    Clare zählte ihren eigenen Herzschlag, um ihn per Willenskraft zu verlangsamen und ihren Atemrhythmus zu normalisieren. Sie lag mucksmäuschenstill auf dem Boden, während der Schnee ihren Körper mit einer weißen Schicht bedeckte. Ihre Füße schienen nicht mehr zu ihren Beinen zu gehören, sie stachen und brannten. Selbst der dicke Parka reichte nicht aus, Clare warm zu halten, als sie starr in einem Bett aus Schnee lag.
    Sie hörte ein Geräusch wie das leichte Reißen eines Nylonstoffs, wenn er sich an etwas Scharfem verhakte. Sie packte den Zweig fester. Nach einer winzigen Drehung des Kopfes sah sie den Schein der Taschenlampe über die Wipfel der Kiefer tanzen, als würde jemand am Fuß des Hügels kauern und seinen Lichtstrahl nach oben unter die ersten Bäume richten. Der Strahl schwenkte zur Seite und verschwand.
    Clare schluckte. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz versuchte, ihr Schneematsch durch die Adern zu pumpen. Das Licht tauchte abermals auf und streifte quer über den Hang. Es traf auf die Birken, schwenkte nach links und dann – direkt auf Clares Versteck. Sie schloss beide Augen und hielt den Atem an. Als sie das eine Lid einen Spaltbreit zu öffnen wagte, hatte sich das Licht näher heranbewegt und kam schwankend genau auf sie zu. Sein kreisförmiger Schein drang erschreckend hell durch die Finsternis. Kein Geräusch, keine Schritte, kein verräterisches Knirschen, Knacken oder Rascheln. Der dicke Pulverschnee verschluckte alles. Die Gestalt näherte sich dem Punkt X, ging in einem Zickzackkurs den Hügel hinauf – alle paar Schritte innehaltend, um ins Unterholz und Dickicht zu leuchten.
    Clare biss die Zähne zusammen. Aufregung und Adrenalin kämpften mit Angst, ihre Muskeln bebten. Sie erkannte ihn hinter dem Lichtschein: die wattierten Umrisse eines Mannes, größer, als er ihr auf der Forststraße erschienen war, das Gesicht vollständig unter einer Skimaske verborgen. Er hielt die Taschenlampe hoch über seinen Kopf, sodass die Lichtreflexe sein Sehvermögen möglichst wenig beeinträchtigten. Der andere Arm hing herab, und der Revolver zeigte nach unten. Der Kerl war also auf alles gefasst – aktionsbereit, sobald er Clare erblickte.
    Ein paar Schritte noch, dann wäre er in Reichweite. Seine Wachsamkeit war die des Jägers, der fürchtet, sein Wild zu verscheuchen. Aber er unterschätzte Clare. Hier war sie der Jäger, und er wurde zum Gejagten, wenn sie ihn erst auf dem Hügel überrumpelt hatte. Alles ringsum verblasste,

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